Simon Kerner kehrte zur Hütte zurück. Die Jagd war ihm heute vergällt, und so ließ er sich auf der Eckbank, die in den Winkel zwischen zwei Fenstern eingepasst war, nieder. Die tote Krähe legte er auf den Tisch, mit einer alten Zeitung als Unterlage. Nachdenklich betrachtete er das auch im Tod noch glänzende Gefieder.
Kerner lebte schon lange genug im ländlichen Bereich des Spessarts, um zu wissen, dass das Annageln einer toten Rabenkrähe nicht von ungefähr kam, sondern eine tiefere Bedeutung hatte. Er wusste um die Praxis mancher Bauern, tote Krähen auf dem Feld an Stangen anzunageln, um Artgenossen fernzuhalten. Große Schwärme von Saatkrähen konnten auf frisch angesäten Feldern enorme Schäden anrichten. Es gab aber noch eine ganz andere Bedeutung solcher Handlungen, die ins Mystische gingen und einem tief verwurzelten Aberglauben entsprangen: Rabenvögel galten als Boten des Todes! Kerner hatte keine Ahnung, was der Verursacher mit seiner morbiden Handlung bezweckte. Sollte das eine Mahnung oder gar eine Drohung sein? Der nächstliegende Gedanke führte natürlich zu seinem Beruf als Richter. Der Vogel war erschossen worden, was aber sicher keinen Hinweis auf eine konkrete Täterschaft ermöglichte. In der ländlichen Bevölkerung des Spessarts gab es mit Sicherheit noch eine ganze Anzahl unregistrierter Schusswaffen, insbesondere Kleinkalibergewehre. Seit Generationen wurde mit solchen Waffen dem Ungeziefer auf den Höfen der Garaus gemacht – was auch immer man darunter verstand.
Kerner betrachtete den Vogel nochmals eingehend, dann wickelte er den Kadaver in die Zeitung und erhob sich. Aus dem an die Hütte angebauten Werkzeugraum holte er einen Spaten und vergrub das Tier ein Stück von der Hütte entfernt im Wald. Er war sich zwar sicher, dass der Fuchs den Kadaver in der Nacht ausgraben würde, trotzdem widerstrebte es ihm, das Tier einfach in den Wald zu werfen.
Wenig später, die Dämmerung war nun schon stark fortgeschritten, verschloss er die Jagdhütte, legte sein Jagdgewehr und die anderen Utensilien nebst seiner Aktentasche in seinen Defender und fuhr nach Hause. Kerner hatte keine Ahnung, dass ihn dabei zwei Augen durch ein Fernglas aufmerksam beobachteten.
Nachdem sich die Scheinwerfer des Geländewagens im Wald verloren hatten, verließ eine hochgewachsene männliche Gestalt im Tarnanzug ihren Platz zwischen mehreren dicht stehenden Fichten und näherte sich der Hütte. Mit wenigen Schritten war der Mann an der Stelle, wo Kerner die Krähe vergraben hatte, und lockerte mit einem trockenen Ast das lose Erdreich. Kerner hatte die Erde nur dürftig festgetreten. Nachdem er den Kadaver in Händen hielt, schob er das kleine Erdloch mit den Schuhen wieder zu. Der Mann säuberte das Gefieder der Krähe nur notdürftig, dann fasste er den Vogel bei den Krallen und marschierte durch die Dunkelheit davon. Das Tier wurde noch gebraucht. Ein Grinsen überzog sein Gesicht.
Donnerstagnacht. Die Uhr des nächsten Kirchturms hatte gerade die zweite Stunde geschlagen. Es war Neumond, so dass die schmale Seitenstraße im Würzburger Stadtteil Frauenland nur vom Schein der in Abständen aufgestellten Bogenlampen einigermaßen erhellt wurde. Ihr weißliches Neonlicht hatte Mühe, das dichte Blätterdach der dicht belaubten, alten Ahornbäume zu durchdringen, die links und rechts entlang des Gehsteigs standen.
Die Haustür des leicht zurückgesetzten Einfamilienhauses öffnete sich langsam, fast zögernd. Das Licht des Flures fiel nach draußen und riss einen Streifen ungepflegter Beete aus der Dunkelheit, unterbrochen durch den verzerrten Schatten einer von hinten angestrahlten, hoch gewachsenen, leicht gebeugten Gestalt. Der nur mit einem blauweiß gestreiften Schlafanzug gekleidete Mann hatte offensichtlich Mühe, seine Bewegungen zu koordinieren. Einerseits versuchte er, die Haustür aufzuhalten, andererseits wollte er mit einem Rollator die Türschwelle überschreiten. Mit den kurzen, tippelnden Schritten eines gehbehinderten, älteren Menschen schaffte er es schließlich und bewegte sich nun über die flache, behindertengerechte Steinrampe in Richtung der Vorgartentür. Der Mann war barfuß, doch das schien ihn nicht zu stören. Es war ja Sommer und nachts herrschten angenehme Temperaturen. Auch dass die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, schien er nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der kurze Weg zum Tor war rechts und links mit LED-Leuchten erhellt, die mit einem Bewegungsschalter ausgestattet waren.
Der Mann war in Panik. Seine dünnen, schlohweißen Haare standen wirr von seinem Kopf ab. Die Augen hatte er vor Erregung weit aufgerissen. Sein Sehvermögen war besonders in der Nacht stark eingeschränkt, und seine Brille lag drinnen auf dem Nachttisch.
Er suchte nach seinem Jungen.
Der Anrufer hatte ihn aus dem Tiefschlaf gerissen und ihm mit eindringlicher Stimme erklärt, er müsse sofort vor das Haus kommen, weil Michael, sein Sohn, von einem Auto angefahren worden sei. Er läge schwer verletzt direkt vor dem Grundstück.
Mit zitternder Hand ließ der alte Mann den Griff des Rollators los und zog die Gartentür auf. Dabei taumelte er etwas, weil ihm leicht schwindelig wurde. Sein Kreislauf war durch das hektische Aufstehen völlig durcheinander. Die Aufregung ließ seinen Puls rasen. Er passierte die Tür und trat auf den Gehsteig hinaus. Die grobe Körnung des Asphalts stach ihn in die weichen Fußsohlen. Er registrierte es kaum. Verwirrt suchte er die Straße ab. »Michael«, rief er dann mit brüchiger Stimme, die kaum ein paar Meter weit trug. Noch einmal: »Michael!« Aber da war nichts.
Er schob seine Gehhilfe über den auf Höhe des Eingangs abgesenkten Bordstein auf die Straße. Etwas verloren stand er mitten auf der nächtlichen Fahrbahn und stammelte den Namen seines Sohnes. Keiner hörte seine schwache Stimme. Alle Häuser dieser Wohnstraße lagen in Dunkelheit. Die Bewohner schliefen.
Keiner sah das unbeleuchtete schwarze Auto, das sich einen guten Steinwurf weit entfernt vom Bordstein löste und sich langsam rollend, fast schleichend der einsamen Gestalt näherte. Etwa sechzig Meter vor dem Mann heulte der Motor plötzlich auf, und der Wagen fuhr mit voller Beschleunigung auf den Alten zu. Als der frontal angebrachte Rammbügel des massigen Geländefahrzeugs auf den mageren Körper des alten Mannes traf, gab es ein klatschendes Geräusch. In hohem Bogen wurde er über die Kühlerhaube nach oben geschleudert. Hart schlug er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe des Fahrzeugs, das ungebremst weiterfuhr. Das Sicherheitsglas erhielt sternförmige Risse, die vom zentralen Auftreffpunkt des Schädels ausgingen. Ein deutlich sichtbarer Blutfleck im Zentrum des Aufschlages zeugte von der Wucht des Zusammenpralls. Der Körper des Mannes wurde seitlich von der Motorhaube geschleudert und schlug hart gegen den Bordstein. Der völlig deformierte Rollator landete ein Stück weit entfernt im Rinnstein.
Erst ein Stück hinter der Kollisionsstelle bremste der Wagen abrupt ab. Grell durchschnitten die glutroten Bremsleuchten die Nacht. Die Fahrertür wurde aufgerissen, eine Gestalt sprang heraus und näherte sich dem gestürzten Greis. Die Pistole mit Schalldämpfer zuckte zweimal in ihrer Hand, dann hastete sie wieder zum Wagen zurück. Mit durchdrehenden Reifen preschte das Fahrzeug die Straße entlang. Erst an der nächsten Kurve wurde das Fahrlicht eingeschaltet.
Ein