Plötzlich ließ sich die erste Krähe fallen, glitt im Tiefflug über die Wiese und verschwand im Gras. Der Jäger wartete darauf, ihre Artgenossen ebenfalls diese Stelle anfliegen zu sehen. Vermutlich lag dort ein verendetes Tier. Rabenkrähen nahmen gerne Aas auf. Nach dem Ansitz würde er den Platz einmal kontrollieren.
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, als eine der Krähen im Baum kurz mit den Flügeln schlug und dann wie ein Stein zu Boden fiel. Zwei Sekunden später stürzte der zweite Vogel aus unerfindlichen Gründen aus dem Geäst. Die Krähe am Boden schien Verdacht geschöpft zu haben, denn sie legte plötzlich mit klatschenden Flügeln einen Alarmstart hin und verschwand über den Baumwipfeln.
Der Jäger war einen Moment verblüfft, dann kam ihm ein schlimmer Verdacht: Wie es aussah, waren diese Vögel abgeschossen worden! Er hatte keinen Schuss gehört, was ihm den Schluss aufdrängte, dass mit einem schallgedämpften Gewehr geschossen worden war. Wilderer!, zuckte es durch sein Gehirn. Unwillkürlich langte er nach seinem Gewehr, das er griffbereit quer vor sich auf die Schießluke gelegt hatte. In dem Jäger stieg Zorn hoch. Die Chance, den Kerl auf frischer Tat zu ertappen, wollte er sich nicht entgehen lassen. Von seinem Hochsitz aus konnte er nichts Verdächtiges entdecken. Also schnappte er sich sein geladenes Gewehr und hastete eilig die Leiter hinunter. Am Boden angekommen, sprang er, das Gewehr quer vor der Brust, mit zwei Sätzen über den Weg und lief gebückt einige Meter in die angrenzende Wiese. Dort kniete er sich sofort nieder. In dieser Haltung konnte er gerade noch durch die Spitzen der höchsten Grashalme hindurchspähen. Die toten Krähen lagen am jenseitigen Waldrand. Wenn sich jemand den erschossenen Vögeln näherte, würde er das von seiner Position aus sehen. Der Jäger war wild entschlossen, den Straftäter zu stellen. So eine Chance würde er nicht wieder bekommen.
Plötzlich hatte er das unbestimmte Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Ehe er in irgendeiner Form reagieren konnte, bekam er von hinten einen harten Schlag auf den Kopf, und es wurde Nacht um ihn.
Der Mann, der ihn mit dem Hinterschaft seines Gewehres bewusstlos geschlagen hatte, schob die Gesichtsmaske nach oben und sah mit zorniger Miene auf den Jäger herab. Er ärgerte sich, ihn nicht in der Kanzel bemerkt zu haben, sonst hätte er natürlich auf seine Aktion verzichtet.
Der Unbekannte beugte sich hinunter und fühlte den Puls des Bewusstlosen. Das Herz schlug gleichmäßig. Die Platzwunde am Kopf blutete zwar stark, war aber nicht weiter gefährlich. Er hatte kein Interesse daran, dem Mann zu schaden, der lediglich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war. Sein Pech! Langsam richtete er sich wieder auf und verließ den Ohnmächtigen in Richtung Wiese. Lange würde die Betäubung nicht anhalten.
Auf dem Weg zu den erschossenen Krähen kam er an der Stelle vorbei, wo im Gras ein totes Reh lag. Am Tag vorher hatte er es geschossen und hier in der Wiese niedergelegt, um die Aaskrähen anzulocken. Der Kadaver war bereits von anderen Räubern angefressen. Vermutlich hatte sich ein Fuchs daran gütlich getan. Er ließ das Reh liegen und ging weiter zum Waldrand. Dort hob er die beiden toten Krähen auf, steckte sie in eine Plastiktüte und verstaute sie zusammen mit dem zerlegten, schallgedämpften Kleinkalibergewehr im Rucksack. Als er wenig später im Wald verschwand, begann es bereits zu dämmern.
Der Verletzte wurde zehn Minuten später von einem Mountainbikefahrer gefunden, der noch zur späten Stunde im Revierteil Bendelsgraben seine Trainingsrunden drehte.
Es war 16.37 Uhr. Die Tür zum Beratungszimmer, das sich an den großen Gerichtssaal anschloss, öffnete sich. Ein Raunen ging durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Raum, und die Menschen erhoben sich, dann trat Stille ein. Die Prozessbeteiligten und Zuschauer im großen Schwurgerichtssaal des Landgerichts Würzburg musterten die fünf Personen, die nun entlang der Stirnwand des Raumes hintereinander eintraten. Der Richtertisch befand sich, im Vergleich zum normalen Saalniveau, auf einem etwas erhöhten Podest, sodass man von dort auf die Menschen im Saal hinunterblicken konnte. Eine sichtbare Manifestierung der Distanz, die ein Gericht zu den übrigen Verfahrensbeteiligten und zum Volk hatte, in dessen Namen es Recht sprach.
Hinter dem Richtertisch standen sechs Stühle. Fünf an der Längsseite, einer an der schmalen Kopfseite. Die Protokollführerin stand bereits an der linken Schmalseite des Tisches und stützte leicht ihre Fingerspitzen auf der Tischplatte auf. Die rot lackierten Fingernägel bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihrer schwarzen Robe. Aufmerksam sah sie den Richtern entgegen. Die Urteilsberatung war heute wieder relativ kurz ausgefallen. Ein Zeichen dafür, dass der Vorsitzende seine Richter wieder einmal gut im Griff gehabt hatte. Sie war schon einige Zeit Protokollführerin in solchen Prozessen. Mittlerweile konnte sie an den Mienen der eintretenden Mitglieder des Schwurgerichts mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Urteil erraten.
Unterhalb des Richtertisches auf dem Niveau des restlichen Gerichtssaals befand sich der Tisch für den Angeklagten und seinen Verteidiger, ihm gegenüber, der Platz des Staatsanwalts. Verteidiger und Staatsanwalt trugen ebenfalls schwarzen Roben. Zwei Meter davon entfernt saßen die Vertreter der Presse.
Die Reihe der einziehenden Richter führte der ebenfalls im Amtstalar gekleidete Vorsitzende des Schwurgerichts an, der sich vor den mittleren Stuhl in der Mitte des Richtertisches stellte. Zwei weitere Berufsrichter in gleicher Robe, die ihm dichtauf folgten, positionierten sich links und rechts von ihm auf. Die beiden ihnen folgenden Personen in Zivil, ein Mann und eine Frau, erreichten wenig später ihre Sessel, jeweils an der linken und rechten Flanke.
Nachdem sich der Vorsitzende davon überzeugt hatte, dass alle an ihren Plätzen standen, musterte er mit unbewegter Miene die am Prozess beteiligten Personen. Zuletzt fixierte er das Gesicht des Angeklagten, der bleich neben seinem Verteidiger stand und den Blick gesenkt hielt. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine weinrote Krawatte. Seine Haare waren kurz geschnitten. Sein Verteidiger hatte ihm erklärt, dass auch der äußere Eindruck bei der Urteilsfindung eine Rolle spielen würde, insbesondere dann, wenn weibliche Richter mit am Tisch saßen. Das markant männliche Gesicht spiegelte deutlich die Strapazen der Untersuchungshaft und des Prozesses wider.
Mit gemessenen Bewegungen setzte sich der Vorsitzende des Schwurgerichts eine Lesebrille auf, dann hob er ein Blatt Papier. Im Saal hätte man eine Nadel fallen hören können. Mit wohltönendem Bariton und tragender Stimme verkündete er das Urteil.
»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte Alexander Thannenberger wird wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.«
Es trat eine Pause ein.
Der Kopf des Angeklagten sank ein Stück nach vorne. Die Schultern des Verteidigers senkten sich resignierend um einige Nuancen, die Körpersprache des Staatsanwalts hingegen verriet seinen Triumph.
Der Vorsitzende wartete, bis seine Worte verklungen waren und ihr Sinn in die Köpfe der Anwesenden eingedrungen war. Schließlich ließ er das Blatt sinken und machte eine sparsame Handbewegung. »Nehmen Sie bitte wieder Platz.« Gleichzeitig ließ auch er sich auf seinem Stuhl nieder. Die neben ihm stehenden Mitglieder des Schwurgerichts folgten seinem Beispiel.
Die mündliche Urteilsbegründung dauerte knappe zwanzig Minuten, dann war der Prozess beendet. Die Gesichter der Menschen im Schwurgerichtssaal zeigten ein breites Spektrum an Gefühlen. Je nachdem, in welchem Verhältnis sie zu dem soeben Verurteilten bzw. dem Opfer standen.
Nachdem der Vorsitzende des Schwurgerichts die Verhandlung geschlossen hatte, mussten die beiden Justizwachtmeister den Verurteilten stützen, damit er nicht zusammenbrach. Langsam ließ er sich auf die Anklagebank sinken. Seine gesamte Willenskraft, die ihn während des zwei Tage dauernden Schwurgerichtsprozesses hatte Haltung bewahren lassen, war verbraucht. Sein Verteidiger beugte