Darstellung 1: Trotz den drei «Fusionspeaks» von 1971 (Ursina Franck), 1985 (Carnation) und 1988 (Buitoni/Rowntree) verlief Nestlés Unternehmenswachstum zwischen 1950 und den 1990er-Jahren erstaunlich konstant, was auf ein starkes internes Wachstum hinweist.
Kennzeichnend für diese innere Unternehmensdynamik steht die Marke Nescafé in der Geschäftseinheit der löslichen Pulvergetränke oder Instantgetränke, die sich mit der Herstellung von Kaffee-, Tee- und Kakaopulver beschäftigt. Als Nestlé in den 1970er-Jahren zum weltweit grössten Lebensmittelkonzern aufstieg, erwirtschaftete sie etwa einen Drittel des Umsatzes und über die Hälfte des Unternehmensgewinns.28 Pulvergetränke waren damit sowohl die umsatzstärkste als auch die gewinnbringendste Produktgruppe innerhalb des Konzerns, wobei Nescafé etwa drei Viertel zu dieser aussergewöhnlichen Bilanz der Abteilung beisteuerte.29 Aus dieser Erkenntnis leitet sich die Hypothese der vorliegenden Arbeit ab, dass die aussergewöhnliche Unternehmensentwicklung von Nestlé in bedeutendem Masse mit Nescafé als sehr gewinnbringendes Hauptprodukt oder «Flaggschiff» des Unternehmens zusammenhängt.
Diesen Überlegungen folgend, wird Nestlés Geschichte aus der Produktperspektive von Nescafé dargestellt und das Wachstum des Schweizer Unternehmens anhand seiner Markenprodukte erklärt. Die Sichtweise verbindet die Unternehmensgeschichte über das Markenprodukt mit der Konsumgeschichte und positioniert die Marke am Schnittpunkt zwischen Wirtschaftsund Kulturgeschichte. Zentral sind dabei die Fragen, wie sich Nescafé und dessen Vermarktung im Lauf der Zeit veränderten, warum sich die Marke weltweit verbreiten konnte und welche Verbindungen zwischen Nestlés Produkten bestehen.
Eine solche Unternehmensgeschichte aus der Produktperspektive kann nur dann wissenschaftlich fruchtbar sein, wenn sie interdisziplinär und theoriegeleitet vorgeht.30 Während die Geschichte und Theorie der multinationalen Unternehmen seit den 1980er-Jahren vor allem im angelsächsischen Raum vorangetrieben wurde,31 stellt die Marke in den Geschichtswissenschaften ein noch wenig erforschtes Gebiet dar. Immerhin sind in den letzten Jahren im Bereich der Marketing-Geschichte verschiedene Publikationen32 erschienen, die grundsätzlich zwei Zugänge zur Markengeschichte erkennen lassen: auf der einen Seite ein eher unternehmensgeschichtlicher Zugang, wie ihn beispielsweise Robert Fitzgerald in seiner Publikation über Rowntree33 einnimmt oder die Darstellung zur Geschichte der Toblerone zu ihrem 100-jährigen Jubiläum,34 welche anhand von Marketing-Strategien des Unternehmens die Markengeschichte des süssen Dreizacks nachzeichnet. Andererseits näherten sich verschiedene Autoren dem Gegenstand auch von der kulturgeschichtlichen Seite an. Erwähnenswert sind hierzu Roman Rossfelds Arbeit zur kulturellen Konstruktion der «Schweizer Schokolade»35 oder die zur Jahrtausendwende erschienenen Publikationen zu Werbebildern als Abbilder des Konsum- und Gesellschaftswandels.36
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen werden Marken und multinationale Unternehmen in der vorliegenden Arbeit sowohl mit wirtschaftswissenschaftlichen Konzepten (Transaktionskosten, Grössenvorteilen, Produktlebenszyklus) als auch mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen untersucht, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Multinationale Unternehmen als Antriebskräfte der Globalisierung
Die Globalisierung wird in öffentlichen Debatten oft als allumfassender Sachzwang beschrieben, der quasi von selbst abläuft.37 Sie scheint – ganz nach der klassischen Wirtschaftstheorie von Adam Smith – von einer «unsichtbaren Hand des Marktes» gelenkt zu werden. In diesem Wirtschaftsmodell funktioniert der Markt als ein sich selbst regulierendes Zusammenspiel von Anbietern und Nachfragern, die als gleichrangig betrachtet werden. Durch den Marktmechanismus festgelegte Gleichgewichtspreise sind das einzige Koordinationsinstrument, wobei davon ausgegangen wird, dass die wirtschaftlichen Prozesse unter Bedingungen perfekt funktionierender Märkte ablaufen, das heisst, dass sich alle Marktteilnehmer rational verhalten, freien Zugang zu allen relevanten Informationen besitzen, der Marktablauf keine Kosten verursacht und überall vollständige Konkurrenz herrscht.38 Unter diesen Bedingungen lassen sich weder Marken noch Unternehmen – geschweige denn multinationale Grosskonzerne – erklären: Da in diesem Modell alle notwendigen Marktinformationen vorhanden sind, wären Marken und Werbung ebenso überflüssig wie Unternehmen als Koordinationseinheiten.39
Empirisch betrachtet, gab es diesen vollkommenen Markt der klassischen Ökonomie allerdings nie. Märkte waren und sind immer in soziokulturelle, politische und rechtliche Strukturen eingebunden, weshalb die Wirtschaft gleichermassen auf Markt- und Machtbeziehungen zwischen Akteuren basiert.40 Neben der «unsichtbaren Hand des Marktes» scheint die Weltwirtschaft also auch von «sichtbaren Händen»41 gesteuert zu werden. Entscheidende Ansätze zu einer solchen Theorie entwickelten in den 1930er-Jahren Joseph Schumpeter in seiner «Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung»42 sowie Ronald Coase in seinem Aufsatz «The Nature of the Firm» (1937). Während bei Schumpeter Unternehmer mit ihren strategischen Entscheidungen bedeutende Wachstumsschübe in der Wirtschaft auslösen,43 widersprach Coase der bisherigen Annahme, dass alle Entscheidungssubjekte die gewünschten Informationen augenblicklich und kostenlos erhalten und verbreiten können, und wies auf die Wichtigkeit von sogenannten Transaktionskosten hin, die bei Austauschprozessen auf Märkten anfallen.44
Ausgehend von der Grundfrage, ob eine Volkswirtschaft zentral oder dezentral gesteuert werden soll, stellte er fest, dass es nicht nur eine, sondern zwei Formen des wirtschaftlichen Handelns gibt: auf der einen Seite die zentralistische, hierarchische Struktur des Unternehmens, auf der anderen Seite die dezentrale Struktur des Marktes. Um die beiden parallel zueinander existierenden Organisationsformen zu erklären, setzte Coase Transaktionskosten als Analyseinstrument ein: Unternehmen existieren, weil bei Austauschprozessen Informations-, Vertrags- und Überwachungskosten45 entstehen. Der Vorteil der Internalisierung dieser Austauschprozesse innerhalb des Unternehmens liegt darin, dass Unternehmen in einem chaotisch funktionierenden Marktsystem durch ihre festen Strukturen Ordnung schaffen und damit Unsicherheiten reduzieren. Umgekehrt fallen bei der firmeninternen Organisation Kosten hierarchischer Koordination an. Mit wachsender Grösse wird es daher für ein Unternehmen immer schwieriger, den Überblick über seine Aktivitäten zu behalten und die Produktionsfaktoren effizient einzusetzen. Ein Unternehmen kann sich deshalb nur so lange ausdehnen, bis die hierarchischen Koordinationskosten den Vorteilen der Informations- und Vertragskosten entsprechen.46
Folglich lassen sich Grossunternehmen dadurch erklären, dass innerhalb dieser Unternehmen Güter gehandelt werden, die hohe Transaktionskosten verursachen. Dies gilt insbesondere für unternehmensspezifische Wettbewerbsvorteile, die nur schwer oder mit grossen Risiken auf Märkten gehandelt werden können. Sie werden daher unternehmensintern ins Ausland transferiert, wodurch sich multinationale Unternehmen herausbilden, die für Geoffrey Jones als wichtigste Förderer von Investitionen, Handel und Wissen über nationale Landesgrenzen hinaus die zentralen Antriebskräfte des Globalisierungsprozesses sind.47 Um die Ursachen der Globalisierung zu verstehen ist es daher wichtig, diese nicht nur als makroökonomische Waren- und Finanzströme zu betrachten, sondern auch mikroökonomisch aus der Sicht multinationaler Unternehmen zu begreifen.48
Wettbewerbsvorteile als Grundlage multinationaler Grosskonzerne
Warum entstehen multinationale Unternehmen überhaupt, und was treibt sie zu Wachstum an? Aufbauend auf den Theorien von Schumpeter und Coase entwickelte Alfred D. Chandler in seinen Werken «The visible Hand»49 und «Scale and Scope»50 die heute bedeutendste Erklärung für Grossunternehmen, während John H. Dunning die Wettbewerbsvorteile von multinationalen Unternehmen weiter spezifizierte und damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis multinationaler Grosskonzerne lieferte.
In «Scale and Scope» begründete Chandler den Erfolg von Grosskonzernen mit sogenannten Grössenvorteilen, die er in drei Komponenten teilt: Erstens «Economies of Scale» oder Skalenerträge, welche die Produktionskosten pro Einheit senken, weil die Fixkosten mit steigender Ausstossmenge auf immer mehr Einheiten verteilt werden. Zweitens «Economies of Scope» oder Verbundsvorteile, die eine bessere Auslastung bestehender Kapazitäten ermöglichen,