Das bonum coniugum ist auch nicht eine Wesenseigenschaft der Ehe.177 Dagegen spricht der Umstand, dass c. 1056 nur Einheit und Unauflöslichkeit als Wesenseigenschaften der Ehe nennt und für weitere Wesenseigenschaften keinen Raum lässt.178 Auch begrifflich entspricht das Gattenwohl nicht einer essentialis matrimonii proprietas. Denn die Frage: „Wie ist die Ehe?“ lässt sich mit „Wohl der Gatten“ nicht beantworten.179
Diesem Einwand entgeht Pierro A. Bonnet, indem er nicht das bonum coniugum, sondern die Hinordnung darauf (ordinatio ad bonum coniugum) als eine von insgesamt vier Wesenseigenschaften der Ehe qualifiziert.180 Er erkennt zutreffend, dass Gattenwohl und Elternschaft als Ziele der Ehe nicht identisch mit ihrem Wesen sind, sondern außerhalb desselben liegen und dennoch in einer engen Beziehung zum Wesen stehen. Um diesen Zielen angemessen zu sein, müsse das Wesen der Ehe allerdings so beschaffen sein, dass die Ziele auch verwirklicht werden können. Das werde durch die Wesenseigenschaften erreicht: Sie seien notwendig mit dem Wesen verbunden, gehen aus diesem hervor und beschreiben dessen erforderliche Beschaffenheit.181 Damit das Ziel bonum coniugum erreicht werden könne, müsse das Wesen der Ehe über die Eigenschaft ordinatum ad bonum coniugum verfügen.182
Bonnets Ansatz hat gegenüber der o. g. Position, das bonum coniugum als Wesenseigenschaft zu bestimmen, den Vorteil, dass „Hingeordnet auf das Wohl der Gatten.“ durchaus eine passende Antwort auf die Frage „Wie ist die Ehe?“ darstellt. Gleichwohl hat auch dieser Ansatz keinen Rückhalt im Gesetzestext, wo ausschließlich unitas et indissolubilitas als Wesenseigenschaften normiert sind.183 Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass es sich bei unitas und indissolubilitas um absolute Begriffe handelt, die nicht zur Disposition stehen. Eine Ehe kann z. B. nicht nur in Teilen unauflöslichlich sein. Gattenwohl und Elternschaft hingegen stecken einen Rahmen ab, der von den Partnern unterschiedlich mit Leben gefüllt werden kann.184 Sowohl rechtssystematisch als auch rechtspraktisch ist eine eindeutige Klassifizierung und Terminologie vorzuziehen. Vor diesem Hintergrund vermag die Redeweise von der ordinatio ad bonum coniugum als einer Wesenseigenschaft nicht zu überzeugen.185
Es bleibt als Anknüpfungspunkt, den c. 1101 § 2 bietet, die Kategorie des Wesenselementes (elementum essentiale). Elementum bezeichnet einen Grund- oder Urstoff.186 Im Codex wird der Terminus jedoch eher im Sinne von „einzelner Bestandteil“ verwendet, was auch in c. 1101 § 2 als sinngemäße Übersetzung erscheint.187 Doch geht es in c. 1101 § 2 nicht um jedweden Bestandteil der Ehe, sondern um diejenigen, die als essentiale, als ihr Wesen ausmachend,188 beschrieben werden. Welche Elemente der Gesetzgeber als ehewesentlich betrachtet, lässt sich dem Wortlaut der Norm allerdings nicht entnehmen; ebenso wenig gibt es Parallelstellen im Codex für matrimonii essentiale elementum.189
Zur Frage, ob das bonum coniugum als ein solches Wesenselement der Ehe gelten kann, ist die Textgeschichte des Canons aufschlussreich.190 Während der Codexrevision wurde erwogen, auch das Recht auf die Gemeinschaft des Lebens (ius ad vitae communionem) als möglichen Gegenstand eines Ausschlusses zu berücksichtigen.191 Dabei war durchaus die Schwierigkeit vor Augen, dieses ius ad vitae communionem so zu beschreiben, dass es justiziabel wäre.192 In der Konsultationsphase wurde daher einerseits die Streichung, andererseits eine genauere Definition dieses Rechts gefordert. In den Beratungen zu den Eingaben hielt die Studiengruppe an der personalen Dimension fest, unklar blieb jedoch deren formale Einordung.193 Der Vorschlag, die drei augustinischen bona im Canon zu nennen, damit die Rechtsprechung die weitere Zuordnung vornehmen könnte, wurde jedoch abgelehnt.194 Zustimmung fand der Vorschlag, das ius ad vitae communionem in ius ad ea quae vitae communionem essentialiter constituunt zu verändern.195 Allerdings wurde später auch diese Formulierung als problematisch angesehen und zum besseren Verständnis schließlich durch matrimonii essentiale aliquod elementum196 ersetzt mit dem Auftrag an Doktrin und Rechtsprechung, diese Elemente zu konkretisieren. Neben der Berücksichtigung der theologischen und kanonistischen Tradition wäre dabei ausdrücklich der spätere c. 1055 § 1 zu berücksichtigen.197
Zahlreiche Autoren bestimmen daher die Hinordnung auf das Gattenwohl als ein Wesenselement der Ehe.198 Diese Klassifizierung nimmt den in c. 1055 § 1 formulierten Zielcharakter des bonum coniugum ernst und stellt den Zusammenhang her zwischen diesem Sinnziel und dem Wesen der Ehe bzw. ihren in c. 1101 § 2 benannten Wesensbestandteilen: Es gehört zum Wesen der Ehe, auf das bonum coniugum hingeordnet zu sein. Sie entspricht ferner dem textgeschichtlichen Befund. Als Antwort auf grundsätzliche Anfragen bezüglich des bonum coniugum vor der Plenaria 1981 wurde ausdrücklich festgehalten: „Locutio ‚ad bonum coniugum‘ manere debet. Ordinatio enim matrimonii ad bonum coniugum est revera elementum essentiale foederis matrimonialis, minime vero finis subiectivus nupturientis.“199
Oftmals wird das bonum coniugum selbst als Wesenselement qualifiziert.200 Gegen diese Auffassung wird jedoch zum einen angeführt, das bonum conigum als ein Ziel der Ehe könne nicht Teil ihres Wesens sein: Es gelte der scholastische Grundsatz, dass der finis einer Sache stets außerhalb ihrer essentia liegen müsse.201 Eine Sache könne nicht auf etwas hinsteuern, das bereits wesentlich in ihr enthalten sei. Da das bonum coniugum in c. 1055 § 1 vom Gesetzgeber als ein Sinnziel des Ehebundes vorgestellt wird, könne es sich daher nicht gleichzeitig um ein Wesenselement handeln.202
Zum anderen wird geltend gemacht, das Wohl der Partner könne kein Wesenselement sein, weil sonst jeder Ehe, in der ein gewisses Maß an Gattenwohl nicht erreicht wird, etwas Wesentliches fehlen würde. Eine ähnliche Unterscheidung wird bereits seit der Scholastik im Hinblick auf das andere Sinnziel, die Elternschaft, getroffen: So wird differenziert zwischen den Kindern, die tatsächlich aus einer Ehe hervorgehen (bonum prolis in seipsum), und der grundsätzlichen Ausrichtung der Ehe auf Nachkommenschaft (bonum prolis in suis principiis). „Nach dem allgemeinen Grundsatz, daß das Sein einer Sache nie von deren tatsächlichem Gebrauch abhänge, sei auch die rechtliche Existenz der Ehe weder von ihrem tatsächlichen Vollzug noch von der tatsächlichen Existenz von Kindern abhängig.“203 Demnach ist es für das Wesen der Ehe unerheblich, ob aus ihr tatsächlich Kinder hervorgehen oder nicht, wobei die Ausrichtung der Ehe auf Nachkommenschaft zu ihrem Wesen gehört und mithin nicht fehlen darf. Auf das Gattenwohl übertragen kann gefolgert werden: Nicht die tatsächliche Realisierung des bonum coniugum ist Teil des Wesens der Ehe, sondern die Ausrichtung, die Hinordnung auf das bonum coniugum.204 Entsprechend stellt nicht das bonum coniugum ein Wesenselement der Ehe dar, sondern die ordinatio ad bonum coniugum.
Formal und terminologisch lässt sich zwischen dem bonum coniugum als einem Sinnziel der Ehe und der ordinatio ad bonum coniugum als einem Wesenselement der Ehe unterscheiden. Psychologisch besteht für den einzelnen Nupturienten kein Unterschied zwischen der Ablehnung des Wohlergehens des Partners und der Ablehnung einer Gemeinschaft, die auf das Wohlergehen des anderen hingeordnet ist.205 Wer das Wohl des Partners ausschließt, lehnt auch ab, dass die Lebensgemeinschaft dem Wohlergehen des anderen dienlich ist. Insoweit ist nicht zu beanstanden, dass Doktrin und Judikatur die beiden Formulierungen nicht selten synonym verwenden. Wo nachfolgend vom „Ausschluss des bonum coniugum“ die Rede ist, handelt es sich dabei meist um eine verkürzte Redeweise, die für den Gesamtkomplex „Ausschluss der Hinordnung auf das bonum coniugum“ stehen soll.
137Die entsprechende Norm im Codex der katholischen Ostkirchen, c. 776 § 1 CCEO, unterscheidet sich zwar in einzelnen Formulierungen, ist aber in Bezug auf das Gattenwohl mit c. 1055 § 1 identisch: „Matrimoniale foedus a Creatore