1.3.2 Das II. Vatikanische Konzil
Klarer als bei den schwer zu verifizierenden Einflüssen der 1968er-Bewegung ist die erneuerte Theologie und das neue Kirchenverständnis des Konzils zu fassen, das bei der Entstehung der Kommunität eine Rolle spielte. Die Sicht des Konzils von Kirche als Communio formuliert eine Gemeinschaftstheologie, die das Entstehen vieler GGB förderte.51 Hierbei ging es um mehr als nur atmosphärische Veränderungen. Fabre sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Communio-Theologie des Konzils und den Vorstellungen von christlicher Gemeinschaft bei CCN.52 Ebenso schenkte das Konzil den biblischen Aussagen über Charismen eine neue Beachtung. Das legitimierte nach Ansicht von Theologen die Unterschiedlichkeit in den Berufungen von einzelnen Gruppen und unterstrich das Recht auf eine gewisse geistliche Individualität und spezifische Wege des Glaubensvollzugs.53 Die Botschaft vom Priestertum aller Gläubigen ermunterte zum gemeinsamen Zeugnis und Apostolat, und die Konzilsaussagen von der Berufung aller Gläubigen zur Heiligkeit zeigten auf, dass auch Laien zum religiösen Streben berufen sind.54 Letztgenannter Gedanke trug mit dazu bei, dass bei CCN Laien ein Leben nach den evangelischen Räten führen.55
1.4 Der Beginn der Lebensgemeinschaft
1.4.1 Der Kreis von sieben Gründungsmitgliedern und das erste Haus in Lyon
Sieben Anhänger der charismatischen Erneuerungsbewegung begannen im Oktober 1973 das Experiment des Gemeinschaftslebens.56 Von den Gründern sind sechs Personen namentlich bekannt: Laurent Fabre, Jacqueline Coutellier, Jacques Monfort, Claire Daurel, Pierre Laslandes und eine junge Frau mit dem Vornamen Brigitte.57 Jaqueline Coutellier weist auf eine Fluktuation in den Anfangsjahren hin. Drei bis vier Personen trugen das Gemeinschaftsleben durch, andere gingen und neue stießen dazu.58 Jedem sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, seine persönliche Berufung zu finden, so Coutellier59. Die Gründer waren im Alter zwischen 24 und 32 Jahren60 und hatten einen Beruf oder mindestens Berufserfahrung gesammelt.61
Jacqueline Coutellier gehörte zu den sieben Gründungsmitgliedern der Kommunität und hat bei ihrer Entstehung offensichtlich eine federführende Rolle gespielt. In Artikeln des CCN-Magazins FOI meldete sie sich häufiger zu Wort. Sie ist heute die Nationalverantwortliche der CCN in Israel.62 Jacques Monfort, der in einem FOI-Artikel etwas über seine Lebensgeschichte mitteilt, wurde von französischen Eltern auf Madagaskar geboren. Er trat zunächst als Novize bei den Spiritanern ein, verließ aber die Kongregation nach dem Noviziat. In der Phase der beruflichen Umorientierung lernte er CCN kennen. Er trat der Kommunität bei und wurde wahrscheinlich für das Bistum Lyon zum Priester geweiht. Einzelheiten zur Inkardination werden nicht genannt.63 Heute arbeitet er für die Kommunität im Tschad.64 Pierre Laslandes ist Priester des CCN-Klerikerinstituts und arbeitet heute in dem CCN-Gästehaus „Foyer de Charité Notre-Dame-de-l′Unité“ in der Diözese Port-Louis auf Mauritius.65 Das nur mit Vornamen vorgestellte Gründungsmitglied Brigitte litt bereits zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Kommunität an Krebs. Ein Jahr später verstarb sie an dem Leiden.66 Von Claire Daurel ist nicht in Erfahrung zu bringen, welche Aufgaben sie bekleidete oder ob sie der Kommunität weiterhin angehört.
Jacqueline Coutellier hebt hervor, dass die neue Gemeinschaft auf vier Prinzipien aufbauen sollte. Man wollte sich vom Heiligen Geist leiten lassen, in brüderlicher Liebe zusammen leben, sich verfügbar halten für die Mission und sich in den Dienst und den Auftrag der Kirche stellen.67 Laurent Fabre bat seinen Jesuitenoberen in Lyon, ihn für das Gemeinschaftsexperiment freizustellen.68 Die ersten zwei Jahre lebte Laurent Fabre allerdings weiterhin im Scholastikat der Jesuiten. Ihm wird in den Mund gelegt, er habe nicht in den Ruf eines privatisierenden Jesuiten kommen wollen, sondern Wert auf Gehorsam gegenüber seinen Oberen gelegt.69 Er verbrachte die Tage in der neu entstandenen Kommunität und kehrte abends zurück ins Scholastikatshaus. „Als wäre er der Kaplan der kleinen Kommunität, bestehend aus sieben Personen“70 – so charakterisiert Jacqueline Coutellier seine Rolle. Fabre wurde erst einige Jahre später einstimmig zum Leiter der Kommunität gewählt, um seine Schlüsselrolle im Gründungsprozess zu würdigen.71
Durch die Vermittlung eines Lyoner Jesuiten konnte die Gruppe in ein Haus am Montée du Chemin Neuf, am Hang des Fourviére, einziehen. Sie erhielt das Haus für ein Jahr zur Nutzung,72 danach sollte es auf dem Immobilienmarkt verkauft werden. Im Sommer 1974 lernte die CCN-Gruppe bei einem Gebetsfestival eine nicht namentlich erwähnte Person kennen, die der Gemeinschaft einen Geldbetrag stiftete, dessen Summe ausreichte, das Haus am Montée du Chemin Neuf 49 käuflich zu erwerben.73 Den Straßennamen Chemin Neuf, auf Deutsch: „Neuer Weg“, empfand man als passenden Namen für die Kommunität. Der Gründungsort gab der neu entstandenen Gemeinschaft also den Namen. Die Gründungsmitglieder sahen darin aber mehr als nur eine Straßenbezeichnung. Sie sahen darin das Programm für ihre neue christliche Gruppe vorgezeichnet.74
Die Gemeinschaft begann mit der Renovierung des Hauses in Eigenleistung.75 Als Erstes wurde der Gebetsraum fertiggestellt,76 ein nicht unerhebliches Detail, das darauf verweist, wie sehr das Gemeinschaftsleben auf einer religiösen Basis gründete. Allmählich kristallisierten sich Gemeinschaftsstrukturen heraus. Anfangs versuchte man alle Entscheidungen einvernehmlich zu treffen. Mit fortschreitender Zeit und den wachsenden Erfahrungen im Miteinander, empfand es die Gruppe als ratsam, einen Hausverantwortlichen zu bestimmen.77 Auch finanzielle Regelungen erwuchsen aus praktischen Alltagserfahrungen. Die erste gemeinsame Kasse war ein Schuhkarton, der auf dem Kühlschrank stand und in den jeder Geld für die alltäglichen Besorgungen und Ausgaben legte.78 In einer nachträglichen Reflexion über diese Gründungsphase meint der CCN-Autor Timothy Watson, einige Grundlinien erkennen zu können, die in der größer werdenden Gemeinschaft beibehalten wurden: Flexibilität, einfache Strukturen, Vorsicht gegenüber einer übermäßigen Institutionalisierung und eine charismatische Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes.79
1.4.2 Der Beitritt von Ehepaaren und Familien
Die CCN-Kommunität bot in Lyon katechetische Glaubensunterweisung an. Auf diese Weise wurde das erste Ehepaar auf die Gemeinschaft aufmerksam und bat um Aufnahme. Die ehelos lebenden CCN-Mitglieder empfanden die Aufnahme eines Ehepaares als ungeplant und ungewöhnlich, aber letztlich doch als unproblematisch. „Wir sahen uns herausgefordert, unser Gemeinschaftsleben in doppelter Weise zu öffnen: Nicht nur Männern und Frauen, sondern auch geweihten Ehelosen und Ehepaaren. […] Gott behandelte uns, wie ein Schulmeister seine Kinder behandelt.“80 Mit diesen Worten beschreibt Jacqueline Coutellier die neue Situation. Ganz neu war die Situation gleichwohl nicht, denn in dem charismatischen Gebetskreis, aus dessen Wurzeln die Gemeinschaft erwuchs und dem die Gruppe weiterhin nahestand, war das Miteinander der verschiedenen Geschlechter, Generationen und sozialer Gruppen das Übliche. Die Gemeinschaft am Montée du Chemin Neuf betrachtete sich darüber hinaus nicht als eine traditionelle religiöse Gemeinschaft, gebunden an Vorgaben aus dem Bereich des geweihten Lebens, in dem Geschlechtertrennung und zölibatäre Lebensweise das Maß sind. Vielmehr sah sich die Gemeinschaft, wie bereits angedeutet, eher in der Tradition der 1968er-Kommunen, die offen waren für alle, die einen alternativen Lebensstil suchten.81 Zu welchem Zeitpunkt sich das erste Ehepaar Pierre und Yvette Briaudet82 der Gemeinschaft anschloss, kann nur indirekt erschlossen werden. Das Ehepaar lernte die Gemeinschaft bei einem CCN-Ausbildungszyklus kennen. Die Unterrichtszyklen begannen im Oktober 1975.83 Die Quellen machen keine weiteren Angaben zur familiären