Die Eschatologie als Lehre von dem, was letztlich im Jenseits auf den Menschen zukommt, ihn erwartet bzw. was er selbst erwarten, erhoffen kann, wird so zum Kriterium aller Theologie, die auf ihren jeweiligen eschatologischen Gehalt und Vorbehalt geprüft werden muss. Sie bildet den Interpretationsrahmen von Kirche und Glaube, die gerade dadurch sich als lebensbejahend und lebensermöglichend ausweisen. So wie die Auferstehung Jesu hermeneutischer Schlüssel zu den Evangelien und zur Entstehung der ersten christlichen Gemeinschaften ist69, so auch für alles Weitere, was auf diesem Glauben und dem darin enthaltenen Erweis der Gottessohnschaft Christi und seines Erlösungswerkes (die Verheißung der Auferstehung aller) aufbaut.
Allerdings weiß eine eschatologische Hermeneutik immer nur unter Vorbehalt Aussagen zu treffen – im permanenten Verweis darauf, dass die letztgültige und alles klärende Selbstoffenbarung Gottes jenseitige Verheißung ist. Sie hält sich zurück mit eindeutigen Bestimmungen Gottes Heilszusagen (oder -absagen) betreffend.70 Sie ist vorsichtig in der Definition letztgültiger Lehrsätze über das Wesen Gottes, da sie gegenüber der Offenbarung Gottes in seiner visio immer zurückstehen bzw. zurückbleiben muss.71 In dieser Hermeneutik ist alles Reden über Gott bestenfalls analoge Annäherung, zugleich aber auch Verheißung und Hoffnung, Vorarbeit.72 Aus dem Horizont der Eschatologie leuchtet die noch ausstehende Erfüllung des gläubigen Hoffens und Vertrauens auf. Auch die Möglichkeit theologischen und kirchlichen Scheiterns wäre in diesem hermeneutischen Rahmen mit ausgesagt, da die entscheidende Dimension der Einholung des Glaubens dort beheimatet ist, wo Gott von sich aus darüber befinden wird. Alle kirchliche Verkündigung, die von den Konsequenzen irdischen Lebens im Jenseits spricht, muss daher von Letzterem ausgehen. Der hermeneutische Schlüssel zum Diesseits ist das Jenseits, nicht umgekehrt.73 Da die Theologen aber über dieses Jenseits nur unter eschatologischem Vorbehalt sprechen können, muss dieser – bei aller analogen Koppelung von irdischem Verhalten und entsprechendem jenseitigem Niederschlag – in der Lehre der Eschatologie konstitutiv verwurzelt sein und von dorther auf das Gesamt der Theologie ausstrahlen. Damit mahnt Theologie zur Vorsicht, auch und v. a. sich selbst gegenüber. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass eschatologische Aussagen im Lauf der Dogmengeschichte unterschiedlich gedeutet wurden. Deshalb muss Eschatologie nach F.-J. Nocke den Fehler vermeiden, den Eindruck zu erwecken, „sie versuche eine Totalerklärung der Welt und eine verobjektivierende Beschreibung der Zukunft […].«74
1.8 Das Christentum und seine eschatologische Ausrichtung
Da die Annahme eines Jenseits Kernbestand nahezu jeder Religion ist, deren Wesen sozusagen kennzeichnet, stellt sich die Frage nach dem genuin christlichen Selbstverständnis über das, was nach dem Tod kommt und seine Bedeutung für den christlichen Glauben in seiner Gesamtheit.75 Hans-Jürg Braun hat in seinem Buch ›Das Jenseits‹76 unter religionsphänomenologischer Perspektive die unterschiedlichen Religionen und ihre Sichtweisen des Todes und des dadurch eröffneten Jenseits in den Blick genommen. Für das Christentum sieht er in Jesus einen Repräsentanten der Jenseitswelt.77 Er betont, Jesu Tod und »die wenig später erfolgende Auferstehung bilden einen Komplex, den man nicht auseinanderdividieren kann […]. Was in den Texten des NT angeboten ist, stellt keine biographische Berichterstattung, sondern eine Verkündigung, eine Predigt, eine religiöse Predigt dar, die sagt, dass Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits, Gott und Mensch auf eine besondere, neue, revolutionierende Weise zusammenfinden.«78 Bemühungen, den rein irdischen Jesus von der allgegenwärtigen Präsenz des Osterglaubens aus den Evangelien herauszuarbeiten, müssen daher scheitern.79 Der auferstandene Christus ist Schlüssel zum Verständnis der Evangelien und schließlich Schlüssel zum Verständnis des Glaubens der Kirche, der darauf aufbaut. Die Bedeutung Jesu für das Christentum leitet sich vom Osterereignis und -geheimnis ab. Vor diesem Hintergrund erhellt sich auch die ursprüngliche Faszination und existentielle Betroffenheit seitens seiner Anhänger, für die das Auferstehungsgeheimnis Initiationspunkt eigener Verkündigung und Weitergabe dieses Ereignisses und damit ihrer Jesusnachfolge wurde.80 Die Auferstehung Jesu als Beantwortung der Frage nach dem eigenen Tod ist damit Kern des urchristlichen Kerygmas.81 Dante knüpft nach Braun an diese zentrale Perspektive des Christentums an : »Die Verwandtschaft zur Antike bleibt erkennbar, doch die Sinngebung erwächst aus dem Christentum. Das Motiv des Besuches bei den Toten und die unvergessliche Vision gehören in den Rahmen des Christlichen, wo dieser Übergang eines Lebenden in die Jenseitswelt zum ganz Außerordentlichen menschlicher Existenz zu rechnen ist«.82 Der christliche Auferstehungsglaube bildet also den Interpretationsrahmen für Dantes Göttliche Komödie, so wie diese ihm umgekehrt mit künstlerischer Gestaltungskraft Lebendigkeit und Anschauung verleiht. Das Diesseits benötigt so das Jenseits, um überhaupt verstanden zu werden, was Dante an seinem und anderer Menschen Lebensschicksal (auf der Erde und nach dem Tode) verdeutlicht : »Es geht ihm als Mensch um sein Leben im Hier und Jetzt, aber dies ist nur dann relevant, wenn ›sein‹ Jenseits hinzugehört. Ohne Jenseits wird sein Diesseits gestört sein, zerfallen […]. Alles, auch das scheinbar Bedeutungslose, ist jenseitig gerichtet bzw. entrinnt einer Begegnung mit Jenseitigem nicht.«83
In religionsphänomenologischer Hinsicht verweist die Frage nach dem Wesen und der Zukunft des Christentums auf seine Eschatologie. Die Perspektive des Jenseits ist daher mehr als nur unaufgebbarer Bestandteil des christlichen Glaubens, sie kennzeichnet sein Wesen (wie das Wesen aller Religion).84 So stellt sich die Frage, ob das Christentum sich den jeweiligen Herausforderungen der Zeit stellen kann, ohne den Verweis auf die eschatologische Vollendung bzw. den eschatologischen Vorbehalt ihrer Mühe und Antwortversuche auf drängende Fragen hervorzuheben. Braun selbst sieht das Christentum unserer Zeit vor diesem Hintergrund in der Pflicht.85
Die Kirche ist aufgefordert, neu die Fragen der Eschatologie in Lehre und Verkündigung wachzuhalten. Letztlich und entscheidend geht es dabei schließlich um die drängende Frage des Menschen nach dem eigenen Tod, um seine Angst vor dem Sterben.86 Der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen sieht im Umgang mit dem Tod kulturgeschichtlich geradezu das Charakteristikum des Menschseins. In der Frage nach dem Tod erweist sich der Mensch als ein auf Religiosität hingeordneter : »Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Toten beerdigt. Hierin verbirgt sich die Wurzel des Religiösen […]. In diesem Sinne ist das Werden des Menschen zum Sapiens ein Werden des religiösen Menschen, des religiosus.«87 Den Umgang mit dem Tod sieht er entsprechend als Indikator für das religiöse Empfinden des Menschen.88 Die Gegenwart zeichnet sich nach Barloewen dadurch aus, dass sie den Tod möglichst verdrängt : »Die moderne Gesellschaft hat den Menschen seines Todes beraubt und droht, ihn nur zurückzuerstatten, wenn der Tod nicht dazu dient, die Lebenden zu belästigen.«89 Krankheit rücke so durch den Fortschritt der Medizin an die Stelle des Todes, der aus dem Alltag ausgebürgert werde. Der Tod löse die Sexualität als größtes gesellschaftliches Tabu ab.90 Wenn die Metaphysik in der Gegenwart ihre Bedeutung verloren hat91, dann folgert er daraus als Konsequenz für die spezifische Sichtweise des Todes : »Die Moderne hat eine grundlegende Neuartigkeit der Sinngebung des Todes erfahren. Es gibt kein Todesbild mehr, das in einen Sinnentwurf von der Welt im Ganzen eingebettet wäre […]. Es ist bezeichnend, dass wir der These von der Unvorstellbarkeit des persönlichen Todes fast nur im Denken der Neuzeit begegnen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass früher allgemein verbindliche Jenseitsvorstellungen ihre Allgemeingültigkeit verloren haben […]. Heute erleben wir eine Zäsur, bei der durch die Diesseitigkeit an die Stelle der Todesangst die Sterbefurcht tritt.«92
Der christliche Glaube bietet dem Menschen nach wie vor die Hoffnung auf ein Jenseits an. Er verweist so auf eine zusätzliche Dimension seiner Existenz, die Raum und Zeit übersteigt, transzendiert. Das Verständnis dieser Dimension der Ewigkeit kennzeichnet den spezifischen Beitrag der Eschatologie als theologischer Disziplin im Dialog mit anderen Wissenschaften. Gemeinsam ist allen nach Erkenntnis Suchenden die menschliche Problematik des Bewusstseins der eigenen Endlichkeit bzw.