Auch die Vorstellung einer Endentscheidungshypothese49, wonach der Verstorbene im Augenblick seines Todes einen Moment ausgezeichneter Freiheit erfährt und deshalb seine Entscheidung für (oder gegen) Gott allein in diesem Moment für seine jenseitige Fortexistenz ausschlaggebend trifft, findet in der Divina Commedia keine Anhaltspunkte. Im Gegensatz dazu wird die Einmaligkeit und bleibende Verantwortung für das irdische Leben betont.50 Das Leben im Jenseits ist Folge der Lebensführung im Diesseits. In der Endentscheidungshypothese hingegen findet eine Relativierung des individuellen Lebens statt : »Der Augenblick des Todes wird überfrachtet, die konkreten Bedingungen des Menschseins in Raum und Zeit unterbewertet.«51 Andererseits wird mit der Endentscheidungshypothese auch die Sichtweise relativiert, dass christliche Hoffnung eine Antwort auf die Ungerechtigkeit in der Welt ist. Gerade aus dieser Hoffnung heraus speist sich jedoch die Notwendigkeit, im Hier und Jetzt bereits umzudenken. Das Jenseits als Konsequenz diesseitiger Lebensführung impliziert eine moralische Handlungsaufforderung. Für alle, die trotz oder aufgrund ihres Glaubens und ihrer guten Lebensführung Benachteiligung und Unterdrückung erfahren, bietet der christliche Jenseitsglaube Trost und Zuversicht (ohne damit bereits ein Urteil über vermeintliche Böse zu fällen).52
Mit der Göttlichen Komödie bleibt die Theologie allerdings bewusst in der Analogie verhaftet. Dante nimmt die Analogie als Mittel zur Hand, um daraus seine Bilderwelt des Jenseits zu gestalten. Theologische Vorbehalte sind daher allerdings umso notwendiger an das Werk zu stellen.53 Das Selbstbewusstsein des Jenseitspilgers könnte ansonsten dazu verleiten, seine Fiktion als die richtige Glaubensposition anzusehen. Er sieht darin weniger Gefahr und Verzerrung als vielmehr Möglichkeit und Werkzeug.
1.5 Dantes Divina Commedia als Anregung, Theologie existentiell als Beziehungsgeschehen zu verstehen
Im Gegensatz zur Religionsphilosophie setzt die Theologie den Glauben der Kirche nicht nur in seiner Gegebenheit, vielmehr in seiner Wahrheit voraus. So gesehen ist der Theologe nicht vorurteilsfrei, seine Wissenschaftlichkeit ist eingebettet in den Glauben der Kirche. Dieser Glaube ist ihm aber nicht einfach vorgegeben, vielmehr gilt im dialektischen Miteinander, dass die Theologie dem Glauben der Kirche (in Schrift, Tradition und Lehramt) verpflichtet ist, der Glaube aber wiederum von der Theologie Interpretation, Vertiefung und Erweiterung in dem Bemühen um seine jeweilige Aktualisierung erfährt. Die Lebendigkeit des Glaubens (in ihrer Vorfindlichkeit und in ihrem Ideal) ist dabei Motivation der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten und -formen. Es entspricht dem Selbstverständnis von Theologie, dass sie sich nicht nur bewusst dem naturwissenschaftlichen Kriterium einer möglichen Falsifizierbarkeit ihrer Untersuchungsgegenstände entzieht, sondern zudem Voraussetzungen aufweist, die auch anderen hermeneutischen Wissenschaften fremd sind.
Die Prämisse einer Existenz Gottes, der sich in der Geschichte offenbart und (nicht nur) in seiner Gemeinschaft (der Kirche) bleibend anwesend ist, führt letztlich dazu, dass die Theologie nicht nur inhaltlich-thematisch, sondern auch in ihrem Vollzug nicht neutral oder indifferent dieser Wirkungskraft Gottes gegenüberstehen kann. So wie der Glaube als solcher Begegnung ist (mit Gott und in seiner Gemeinschaft untereinander), so ist dies auch ein Anspruch von und an die Theologie. Im wissenschaftlichen Diskurs gilt dies für die inhaltliche Auseinandersetzung ebenso wie für die Art und Weise der Argumentation und Ergebnissuche. Hierbei wird deutlich, dass es keine beliebige Verfügungsgewalt über die göttlichen Wahrheiten seitens der darüber nachsinnenden Menschen geben kann. Theologie setzt den Glauben voraus, um ihn neu zu reflektieren und zu aktualisieren, in die jeweilige Zeit hinein zu versprachlichen. Ebenso wird der Glaube des Theologen vorausgesetzt, welcher ja gerade in seinem Denken (und Handeln) zum Ausdruck kommt. Der Glaube ist auch und gerade in der theologischen Auseinandersetzung ein lebendiger – oder er ist nicht. Theologie ist somit nicht nur intellektuelle Angelegenheit des über Thematiken des Glaubens an Gott Reflektierenden, sondern auch personale Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Konsequenzen dieses Denkens. Davon hängt auch die Glaubwürdigkeit beider ab – des Glaubens wie der Theologie, des Glaubenden wie des Theologen. Theologie existentiell54 zu verstehen, bedeutet dann, die eigene Betroffenheit und Auseinandersetzung mit zur Sprache zu bringen. Es geht nicht vorrangig um ein Lehrgebäude theoretischer Glaubensinhalte, die der Person und dem Lebensschicksal des Einzelnen unverbunden gegenüberstünden. In dieser existentiellen Bedeutung gewinnt Theologie Lebendigkeit und Anschauungskraft, auch und gerade im Bemühen, den Glauben anderen zu vermitteln. Diese Vermittlungsfunktion von Theologie dient dann nicht nur dazu, einem kirchlichen Glauben das Wort zu reden, sondern meint immer auch den persönlichen Glauben, der mit dem Glauben der Kirche auch in einem Spannungsverhältnis stehen kann, solange die genannte Dialektik trägt, welche das theologisch bereichernde und schöpferische Moment darstellt, ohne das Theologie bloße Rekapitulierung im (bestenfalls) neuen Kleide wäre.
Dantes theologische Aussagen in seiner Göttlichen Komödie sind allesamt existentiell. Dadurch, dass sein eigenes Schicksal so dramatisch mit den Kernaussagen der Eschatologie und der Gnadenlehre verwoben ist, gewinnen die theologischen Aussagen eine persönliche Bedeutung, die größer für den Jenseitswanderer und den mit ihm gehenden Leser nicht sein könnte. In der Erfahrung des Jenseits wird überhaupt erst die eigene Existenz ins rechte Licht gesetzt. Die Perspektive nach dem Tod ist gleichfalls die Perspektive Gottes auf diese Welt und das irdische Leben, womit Letztere ihren eigentlichen, relativen Platz erhalten und damit allen Übererwartungen an sie zu entgehen vermögen. Der Mensch kommt dann erst zu seiner eigentlichen Existenz, wenn er lernt, sie sub specie aeternitatis zu betrachten, wenn er sie auf ein Fundament und ein Ziel gründen kann, das ihn auch dann sinnvoll leben lässt, wenn alles andere im Horizont seiner irdischen Lebenszeit sinnlos erscheinen muss. Insofern ist Theologie die Lehre von dem, was den Menschen im Innersten betrifft, ihm an die Existenz geht, und ihn zugleich über diese hinaus erhebt. Damit wird die christliche Eschatologie zum Schlüssel seiner Existenz und zum Schlüssel der ganzen Theologie. Der ›Mehrwert‹ des Glaubens beruht letztlich auf der Hoffnung, ohne die der eigenen Existenz eine unerschütterliche Verankerung fehlte und die angesichts der Bodenlosigkeit irdischer Lebenserfahrungen umso notwendiger erscheint. Andererseits erschüttert die eschatologische Dimension auch jegliches Bemühen, es sich in der Welt bequem zu machen. Hierbei wird die Dialektik von Zeit und Ewigkeit in der Krise deutlich, »durch die das Ewige jegliche Stabilität in der Zeit bedroht. Das Ewige muß darum als die Grenze der Zeit verstanden werden – nicht im Sinne einer quantitativen Begrenzung, sondern als kritische Qualifikation alles Zeitlichen durch das Ewige«.55
Die personale, existentielle Betroffenheit meint dabei nicht ein isoliertes, individuelles Geschehen. Lebendigkeit des Glaubens verlangt Begegnung. J. Ratzinger verankert die christliche Sichtweise der Unsterblichkeit im dialogischen Charakter der Beziehung von Gott und Mensch. Der Mensch ist deshalb unsterblich, weil er aus diesem Dialog mit Gott nicht hinausfällt. Beziehungen und Begegnungen der Menschen untereinander sind in Konsequenz ausgerichtet auf die Beziehung mit Gott und lassen sich von der ersehnten Begegnung mit Gott in der Ewigkeit her interpretieren : »In jeder zwischenmenschlichen Liebe liegt ein Ruf nach Ewigkeit, den sie aber nie einzulösen vermag. Gott tritt in Christus als Mensch in diese unsere Suche nach dem Wort der Liebe ein.«56 Dies trifft auch für Dantes Begegnung mit Beatrice zu, die in ihm die Sehnsucht nach der Liebesfülle Gottes durch ihre Begleitung weckt. Er erlebt und veranschaulicht theologische Inhalte durch seine Gespräche mit den verschiedensten Menschen in den drei Jenseitsreichen. Der Weg zur Begegnung mit Gott besteht aus der Auseinandersetzung und dem Dialog mit anderen. Theologie als Möglichkeit und Motivation zur Begegnung und Gemeinschaft hat ihr Bild in dem Sonnenhimmel der Theologen des Paradiso gefunden, wo selbst Siger von Brabant in den Reigen der Großen aufgenommen wurde (vgl. Par. X, 133–138). Die Aufgabe des Theologen (auch und gerade aus eschatologischer Perspektive) ist es, sich in diese gemeinschaftliche Suchbewegung hineinzubegeben, die doch nur Gott selbst (durch die Begegnung mit ihm) zum Ziel bringen kann.
1.6 Hermeneutik und Symbolgehalt theologischer Aussagen