Der Anspruch dieser Arbeit, die Liebe als Zielgrund menschlichen Strebens in der Divina Commedia zu untersuchen, fokussiert also keine Theologie im Sinne eines geschlossen-systematischen Systems, vielmehr den personalen Bezugspunkt des Werkes und der darin aufscheinenden theologischen Qualifizierung, ist doch der ›Gegenstand‹ aller Theologie personal, Gott als Beziehung gar trinitarisch und dreipersonal.
Wenn die Liebe als Grund und Ziel menschlichen Strebens ausgezeichnet ist, dann birgt somit zunächst ihr Antriebs- und Sehnsuchtsmoment im Spannungsgefüge eines ›Wovonher › (Dantes Erfahrung mit der irdischen Beatrice) und eines ›Woraufhin‹ (die Liebe des dreieinigen Gottes als Hoffnung auf Erfüllung der Kontingenz irdischer Liebe) entscheidenden Wegcharakter, wobei Beatrice in ihrer Bedeutung innerhalb der Göttlichen Komödie diese dynamische Liebesbewegung ermöglicht und versinnbildlicht. Dantes Jenseitsweg ist insofern auch immer schon Ziel, als durch das Geleit Beatricens die Dynamik der Liebe immer weiter gesteigert wird bis sie zurücktritt, da sie selbst nur Ermöglichungsgrund ist für und Hinweisfunktion hat auf Gott, der die Liebe ist.
Ausgangspunkt bleibt jedoch die Person Dantes, die wir aus heutiger Perspektive nicht letztlich als solche in ihrem historischen Befinden und ihrer Intentionalität herausstellen können, die Bedeutung Beatricens für ihn (in ihrer Differenz aber auch notwendigen Integration von irdischer und himmlischer Erfahrung) wie auch alle anderen Begegnungen im Werk. Dazu kommt entscheidend die Begegnung des Lesers mit den Personen des Werkes hinzu, bedingt durch seine jeweilige Subjektivität und entsprechende Perspektive, was einen hermeneutischen Bezugsrahmen verlangt, der die subjektbedingte Verfassung menschlichen Erkennens und Empfindens als Voraussetzung jeglicher Interpretation anerkennt. Hierzu bietet sich der Konstruktivismus mit seinem Verständnis der Beobachtungs- und Erfahrungsabhängigkeit des Weltverstehens an.
Zunächst nimmt das lebendige Beziehungsgeschehen (des Autors mit seinem Werk, der Personen im Werk, des Lesers mit dem Werk) seinen Ausgangspunkt aus der Dichtung in ihrer eigenen Dynamik und ihrem prinzipiellen Verweischarakter (entsprechend der immer wieder betonten Unzulänglichkeit von Dantes eigenem künstlerischen Schaffungsvermögen) auf das ausstehende Erkennen, welches Gnade und damit vom menschlichen Erkenntnisvermögen letztlich doch unableitbar ist. Der Dialogpartner dieser fiktiven Jenseitsdichtung ist der sich in diese jenseitige (und damit vorbehaltliche) Vorstellungswelt mit hineinbegebende Leser und Interpret. Dantes Konstruktion bzw. Fiktion ist damit Ermöglichung und Einladung für den Leser, sich in diese Konstruktionalität und Fiktionalität mit hineinzubegeben, niemals vergessend, dass er selbst wiederum nicht vorurteils- und interessensfrei seine Begegnung mit Dante und seinem Werk konstruiert. Der zirkuläre Konstruktionsprozess erweist sich vor diesem Hintergrund als stets neu gestaltbar und prinzipiell unabgeschlossen. Das Interesse der Perspektive der Begegnung des Lesers mit dem Werk nimmt somit gerade diese Beziehung in den Blick in ihrer beidseitigen Bedingtheit.
Die vorliegende Dissertation mit ihrem theologischen Bezugspunkt bringt die Sichtweise des gläubigen Rezipienten mit ein und erweitert durch diese Subjektorientierung den literatur- bzw. philologiehistorischen Zugang. Der Text der Dichtung wird damit zum Anlass einer konstruktivistisch fundierten Auseinandersetzung, als Gegenstand wird er als Voraussetzung hierfür zum Ausgangspunkt konstruierender, subjektbedingter Dynamik des Verstehens und vermag so existentielle Bedeutsamkeit zu gewinnen.
Die Fiktionalität der Divina Commedia steht allerdings ihrem Wahrheitsgehalt nicht entgegen, insofern konstruktivistisch Wahrheit immer eine er- und gefundene ist. Die Wahrheit erschließt sich in der Konstruktion der oben angesprochenen Zirkularität von Text und Leser in einem beidseitig und gegenseitig sich erschließenden Konstruktionsprozess. Fiktion ist damit mehr als willkürliche Erfindung einer nicht als real gesicherten Wirklichkeit, sondern durch die mit ihr verbundene und zu suchende Deutung ihrer Aussage wächst aus ihr Bedeutung in der Auseinandersetzung (Begegnung) der sich dabei konstruierenden existential-bedeutsamen Inhalte.
Auch die poststrukturalistische136 bzw. dekonstruktivistische Position zur Fiktionalität von Sprache geht von der Korrelation Ersterer mit der sozialen Wirklichkeit und dem Subjektempfinden der Rezipienten (die stets auch Konstruierende sind, insofern die dargebotene Sprache durch sie verstanden, interpretiert wird und weiterführende Versprachlichung findet) aus. Wenn Sprache Realität erst erschließt und kontingente Möglichkeitsräume für den Lesenden (wie Sprechenden, Hörenden) schafft, dann ist ihr innovativ-kreativer Anspruch und ihre Aufnahme selbst wirklichkeitsverändernd und -setzend. Sinnkonstruktionen erweisen sich daher als prinzipiell offen und veränderbar. So verweisen die poststrukturalen Konzepte der Fiktion auf die Bedeutung der Sprache als (Er)Dichtung, als Ausgedachtes, da eine derartige Entlarvung der Sprache als Fiktion zugleich über die Frage nach der realen Vorfindbarkeit des Ausgesagten in der materialen Weltwirklichkeit hinaus verweist. Die Phantastik von Dantes Jenseitswelt lehnt sich ja zunächst an die Realistik der irdischen Welt an. Sprache erweist sich darüber hinaus jedoch als weltgestaltende sowie werthaltige Position, ist performativ.
Für einen hermeneutischen Zugang, der den Konstruktivismus bei der Untersuchung der Fiktionalität sprachlicher Repräsentationen berücksichtigt, erweist sich dieser Prozess als stets unabgeschlossen-offen, d. h. es kann ihm nie nur um vermeintlich rein Faktionales gehen. Wenn sich die fiktionale Darstellung an faktionale anlehnt, markieren daher beide notwendig diesen Konstruktionsprozess, da andererseits die reine Fiktion eine Begegnung von Text und Leser verunmöglichen würde, insofern sich eine solche immer an die Erfahrungswirklichkeit und -möglichkeit von Letzterem anschließt, darüber aber stets auch hinausgehend. So gilt entsprechend für eschatologische Aussagen, dass sie in Analogie zu irdischer Weltwirklichkeit stehen müssen, um überhaupt aussagbar zu sein. Gerade diese analoge Rede impliziert aber bereits ihr eigenes Ungenügen und ihre prinzipielle Unähnlichkeit mit dem Gemeinten, welches raumzeitlich eben nicht erfassbar ist.
Wenn nun Hans Vaihinger in seinem Hauptwerk Die Philosophie des Als-ob erkenntnistheoretisch Fiktion als bewusste Annahme nicht belegbarer oder gar falscher Tatsachen um ein bestimmtes Ziel zu erreichen akzentuiert, so stellt er ihre dienende Funktion heraus, d. h. auch ihre Verüberflüssigung nach Zweckerfüllung. Eschatologisch gesehen kann diese Sichtweise auf Dantes Werk wie auf alle eschatologischen Aussagen überhaupt übertragen werden, insofern sie auf etwas verweisen, das als solches raumzeitlich nicht eingeholt werden kann, sich daher als transzendental-jenseitig versteht und in einer angenommenen (geglaubten) Einholung nach dem Tod als überholt erweisen muss (und gegebenenfalls vor dem Hintergrund dieser Erfahrung auch als fehlerhaft, korrigiert). In diesem Zusammenhang ist der Verweis von G. Gabriel, dass fiktionaler Sprache Referenzialisierbarkeit ermangele137, d. h. sie keine Referenz in der (positivistisch verstandenen) Weltwirklichkeit habe und daher keine reale Erfüllung aufweist bzw. intendiere, als Herausforderung zu sehen, eschatologische wie generell theologische Sprache neu zu überdenken. Wenn die Referenzialisierbarkeit fiktionaler Sprache ihren Gehalt auszeichnet und daher Kriterium ihrer Bedeutung ist, so kann theologisch-eschatologisch Sprache nur mittels der Referenz in der Existenz des Beteiligten und sich in den Dialog mit der Sprache Begebenden als gehalt- und bedeutungsvoll ausgewiesen werden. Die ausstehende Erfülltheit jenseitiger Verheißung verändert bereits im Diesseits den Rezipienten durch ihre Darstellung und Verkündigung. Die Ansage einer postmortalen Qualifizierung des eigenen (un)moralischen Handelns etwa hat Relevanz auf dieses in der prämortalen Existenz, insofern das transzendentale Gericht vom Subjekt geglaubt und persönlich präjudizierend angenommen wird, woraus sich Verantwortung wie auch Nächstenliebe erst in ihrem spezifisch christlichen Gehalt erschließen.
Die Funktionalität der Fiktion verweist in diesem Zusammenhang auf die hinter ihr stehende Intention, die etwa nach Searle die Differenz zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Sprache kennzeichnet, die sich ansonsten nicht in ihrer Struktur unterscheiden.138 Wenn nun nach einer möglichen Intention in der Sprache gesucht wird, dann ist diese Suche nach ihrem Zweck und ihrer Absicht auch immer geprägt vom interessegeleiteten und erfahrungsabhängigen Blickwinkel des Suchenden. Konsequenterweise kann in dieser Sichtweise die Intentionalität der Divina Commedia aus konstruktivistischer Perspektive nicht beobachter- bzw. leserunabhängig erschlossen werden. Insofern kann auch nie die