Der Gemeinschaftsaspekt der Heiligen (communio sanctorum) existiert nicht nur als theoretische Behauptung, er gewinnt im Paradies Anschaulichkeit, wird lebendig. Der Himmel lebt von der freundlichen Atmosphäre der geschilderten Begegnungen.32 Diese bilden das Grundgerüst der Jenseitsreise Dantes. Im Infernum hingegen kann von einer positiven Gemeinschaft keine Rede sein. Begegnung als Notwendigkeit und Möglichkeit, den Glauben neu zu erschließen, wird bei Dante zum Leitmotiv jenseitiger Erklärung für alles, was im Diesseits noch verwirrt und ungeklärt bleiben muss. In der Begegnung klären sich die Fragen, nicht in der theoretischen Definition, einem definierten Lehrsatz. Diese setzt Dante zwar voraus, interpretiert sie allerdings nun in der Sprache persönlicher Begegnung und eigener Betroffenheit. Dadurch gewinnt die Lehre in der Begegnung erst Verständnis, wird existentiell bedeutsam. Dantes ›Theologie der Begegnung‹ weist damit eine Nähe zu aktuellen theologischen Überlegungen auf, welche eine Rückbindung der Theorie an die Praxis und ihren interpersonalen Gehalt anzielen.33
Ein weiterer Aspekt gegenwärtiger Theologie ist die Sichtweise des Spannungsgefüges der jesuanischen Botschaft vom Reich Gottes im NT, welches bereits im Diesseits anhebt, dennoch darüber hinaus weist und auch dem Tod nicht das letzte Wort (und damit das mögliche Scheitern dieser Verheißung) zugestehen will. In dieser Spannung des ›Schon-und-noch-nicht‹ befindet sich Dante selbst. Als Lebender und dennoch im Jenseits sich Befindender personifiziert er geradezu diese Spannung. Er weiß, dass er nach seiner Jenseitsreise wieder auf die Erde zurückkehren muss, er erfährt hier, was ihn dort noch erwartet. Zugleich ist er ganz in der eschatologischen Wirklichkeit unterwegs, muss das Sühneleiden der Läuterung teilweise selbst ertragen und kann die empfundene Herrlichkeit im Paradies kaum mit den Worten und Vergleichen des irdischen Lebens wiedergeben. Dante verweist hierbei auf einen wesentlichen Aspekt des christlichen Lebens selbst : das Stehen im Diesseits mit allen Konsequenzen, bei gleichzeitiger Hoffnung auf eine Fortexistenz nach dem Tode, welche alle irdisch nicht erfüllbare Sehnsucht aufgreift und vor dem Hintergrund dieser christlichen Verheißung zu deuten sucht. Der Christ lebt daher in der Welt mit Erwartungen, die über diese hinausgehen. Andererseits kann er seine Lebenswirklichkeit aus diesen eschatologischen Erwartungen heraus deuten. Die jenseitige Verheißung hält die Sehnsucht wach und hindert daran, dass Enttäuschung und Ernüchterung in dieser Welt den Glauben an das Leben selbst und den Wert der eigenen Existenz letztlich untergraben. In dieser Perspektive der Ewigkeit ist dann alles aufgehoben, was im zeitlichen Leben fehlläuft oder an Gutem verhindert wird. So kommt Dante mit einer doppelten Botschaft von seiner Jenseitsreise zurück : dem klaren Hinweis, wie ernst dieses irdische Leben ist (mit seinen bleibenden Konsequenzen) und zugleich, dass die Menschen es nicht zu wichtig nehmen sollen im Vergleich zu dem, was sie erst noch erwartet bzw. was sie erwarten dürfen. Diese Spannung charakterisiert eine christliche Weltsicht, die deswegen im Diesseits aufgehen kann, weil sie weiß, dass dieses nur Vorletztes enthält. Ein vom Jenseits immer schon umgriffenes Diesseits verliert seine vermeintlich letztentscheidende Ernsthaftigkeit ; Leid und Tod ist der Stachel genommen.34
Obgleich neuere theologische Fragestellungen wie die Theorie des Ganztodes oder der ›Auferstehung im Tode‹35 in der DC verständlicherweise kein Thema sind, so gibt Dante doch seinerseits indirekt Antwort auf deren Ausgangsproblem. Die eschatologische Leib-Seele-Problematik, die Annahme einer Auferstehung des Leibes am Ende aller Zeiten verbunden mit einem Zwischenzustand der Seele ohne ihren Leib, umgeht er, indem er einen quasi-leiblichen Zustand mit quasi-leiblichen Erfahrungsmöglichkeiten annimmt.36 Gerade in Infernum und Purgatorium, dort also, wo die Gottferne schmerzlich empfunden wird, rückt eine plastische Präsenz der jeweils Verstorbenen in den Vordergrund, welche die Begegnung untereinander und mit Dante (der ja als noch nicht Gestorbener seinen Schattenleib mit hineinbringt in diese Erfahrungswelt und dadurch als noch Lebender erkennbar für die bereits Verstorbenen wird) erst ermöglicht. Wenn auch eine Auferstehung des Leibes am Jüngsten Tag explizit vorausgesetzt wird, so ist doch das Problem einer leiblosen Seele gelöst, indem nicht nur eine formale Verwiesenheit im Raum steht, sondern von einer Erfahrungs- und Begegnungsmöglichkeit ausgegangen wird, welche auf der je eigenen, in den Tod mit hineingenommenen Personalität und Individualität aufbaut. Die anima separata als Seele ohne leibliches Moment interpretiert Dante als auf ihren Leib hingeordnete Person, die gerade aufgrund dieser bleibenden Verwiesenheit schon vor der Auferstehung des Leibes quasi-leiblich erscheinen muss, soll Begegnung und Erfahrung im Jenseits überhaupt möglich sein, womit gerade diese personale Hinordnung auf die leibliche Auferstehung sichtbar und deutlich wird. Der auf Seiten von Theologen kritisierten Abstraktheit einer leiblosen Seele, ihrer vermeintlichen Geschichtslosigkeit, begegnet Dante mit der Vorstellung Verstorbener, die ihre Lebensgeschichte mit hineinnehmen in den Tod, deren Leben schließlich ihren Tod ausmachen, deren Diesseits ihre Befindlichkeit und Konkretheit im Jenseits bedingen. Hierbei lässt sich die Frage stellen, ob das Ausgangsproblem37 der Überlegung einer ›Auferstehung im Tode‹ für den Christen historisch solange gar keines darstellte, als er von Vorstellungen geprägt war, die sich wie bei Dante an diesseitigen Erfahrungen bewusst festmachen, da nur in dieser Analogie überhaupt veranschaulicht werden kann, was letztlich niemals mit der diesseitigen Vorstellungswelt beschreibbar ist. Empirisch lässt sich die Jenseitswirklichkeit nicht festmachen ; die auf der Empirie und der physiologischbedingten Wahrnehmung beruhende Erlebniswelt des Menschen ist aber einziger Standpunkt, von dem her das Jenseits selbst vorstellbar werden kann.38 Die Vorstellung einer ›Auferstehung im Tode‹ lässt die Auferweckung mit Leib und Seele und die Geschehnisse des ›Jüngsten Tages‹ mit dem eigenen Tod zusammenfallen, womit sie dem individuellen Problem eines körperlosen Zwischenzustandes der Seele entgegentreten will. Es gibt dann keine Zeit zwischen Tod und Jüngstem Gericht, das Purgatorium als Zwischenzeit entfällt, Tod und Parusie koinzidieren.39 Letztlich geht es hierbei um den Aspekt der Zeit und die Annahme einer Gleichzeitigkeit aller Ereignisse in der Ewigkeit.40 Ewiges Leben ist allerdings nicht mit der diesseitigen Zeitlichkeit zu vergleichen. Insofern ist die Vorstellung einer eschatologischen Gleichzeitigkeit, in der jenseitige Erfahrung wie in einem einzigen Moment abläuft, der immer nur als aktueller zu verstehen ist, ein Anhaltspunkt, dieser sich verbietenden Übertragung des Diesseits auf das Jenseits zu begegnen.41 Allerdings wird auch hier der Rahmen eines analogen Zuganges nicht verlassen.42 Gleichzeitigkeit und momentane Aktualität heben ebenso in der Vorstellungswelt des irdischen Lebens an, wie die Überlegung eines Zwischenstandes oder einer Jenseitswanderung in der Ewigkeit.43
Wenn individuelle und allgemeine Auferstehung zusammenfallen (was hinsichtlich der Zeitlosigkeit der Ewigkeit bzw. des lediglich analogen Verstehens jenseitiger Abläufe ausgehend von diesseitigem Zeitverständnis durchaus reflektiert werden kann), so bleibt doch die Frage nach der Gemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen damit virulent. Die Verbundenheit von Lebenden und Toten beruht ja auf der Vorstellung einer aktuellen Möglichkeit der Gemeinschaft.44 Auf dieses Problem verweist Bertram Stubenrauch, indem er im Blick auf die Theorie der ›Auferstehung im Tode‹ schreibt : »Im Grunde genommen aber gäbe es – für den Toten – gar keine Hinterbliebenen mehr. Diese wären bereits wie er selbst in die große Versammlung vor Gottes Richterstuhl einbezogen ; in sie hinein auferstehend träfe jeder sofort wieder auf die Angehörigen und Freunde. Aber sie trauern nun einmal am Totenbett. Dort müssten sie allerdings davon ausgehen, dass der soeben Verstorbene im selben Augenblick mit ihnen zusammen vor Gott steht – die Sache wird spätestens jetzt unannehmbar kompliziert.«45 Da die Perspektive der Ewigkeit immer eine aus dem Diesseits (wenn auch analog) konstruierte ist, steht auch die Theorie einer ›Auferstehung im Tod‹ unter eschatologischem Vorbehalt.46
Dante setzt – im Gegensatz zur Ganztodtheorie47 – die Unsterblichkeit der Seele ebenso voraus wie die noch kommende, allgemeine Auferstehung. Diese Trennung von individueller und allgemeiner Auferstehung erweist sich als Grundlage des gläubigen Vollzugs der Verbundenheit von Lebenden und Toten (etwa im Gebet).48 Für ihn stellt die vorausgesetzte,