6.4Christus als Mitte der Divina Commedia
6.5Die Divina Commedia als Zeugnis des christlichen Glaubens
6.6Die christliche Jenseitsvorstellung und ihre moralische Ausrichtung
6.8Infernum und Purgatorium als aktuelle Problemkreise der Eschatologie
6.8.2Die Frage nach der Läuterung
6.9Ansätze für eine Dogmatik unserer Zeit
6.10 Die Unzulänglichkeit aller Eschatologie
6.11 Theologie im nachmetaphysischen Denken der Gegenwart
6.12 Die Divina Commedia und ihr Beitrag zu einer Theologie der Gegenwart
7Schlussreflexion : Personale Liebeserfahrung als Theologie
Hinführung
Die Divina Commedia (DC) des Dante Alighieri stellt den nicht einfachen Weg des Menschen zu Gott in dichterischer Form dar. Die vorliegende Untersuchung sieht die DC Dantes nicht mit den Augen der Philologie, sondern mit den Augen der Theologie. Es sind die Augen Beatricens, die für Dantes Läuterungsweg maßgebend sind. Dantes konkrete zwischenmenschliche Liebeserfahrung ist Ausgangs- und Zielpunkt seines läuternden Weges zu Gott (der die Liebe in unbedingter Erfülltheit ist). Seine Jugendliebe Beatrice wird ihm dabei zur theologischen Führerin und himmlischen Fürsprecherin. Dass Beatrice Dantes theologische Lehrerin ist und dementsprechend die Theologie verkörpert, wird nicht undifferenziert vorausgesetzt, vielmehr werden aus ihrer Fürbitt- und Geleitrolle Rückschlüsse auf ein entsprechend personales Verständnis theologischer Gottsuche gezogen, welches somit in einer geläuterten Liebessehnsucht seinen Ausgangspunkt findet. Beatrice wird nicht mit der Theologie schlechthin identifiziert, sie ist mehr als deren bloße Personifikation.1 Ziel dieser Untersuchung ist es herauszuarbeiten, inwiefern die Begegnung mit dem geliebten Du im konkreten Lebensvollzug – auch und gerade im Moment der Erfahrung der Trennung – der zunächst in einem formal-offenen Sinn verstandenen Theologie einen existentialen und persönlichen Akzent zu geben vermag.
Dantes Suche nach der Erfüllung seiner Sehnsüchte in Gott ist initiiert durch die Fürbitte Beatricens, aber sie ist ihm nicht allgegenwärtige Begleiterin in der DC (bis zum Eintritt ins irdische Paradies auf dem Läuterungsberg übernimmt diese Rolle Vergil). Dementsprechend verschließt sich die vorliegende Arbeit in ihrem methodischen Vorgehen nicht dem einheitlichen Ganzen von Dantes Werk. Seine drei Teile stehen in Beziehung zueinander und können nur als Einheit letztlich adäquat verstanden werden. Wo Beatrice nicht als Wegbegleiterin Dantes erscheint, ist ihr Fernbleiben bedingt durch den gottfernen bzw. noch zu läuternden Zustand in Hölle und Purgatorium. Vor diesem Hintergrund wird zunächst das Paradies – der vornehmliche Ort der Vermittlerrolle Beatricens – in Augenschein genommen, danach der Aufstieg auf den Läuterungsberg und schließlich der Gang durch die Hölle. Hierbei lässt sich das personale Verständnis theologischer Gottsuche erschließen, wie es sich von der Bedeutung Beatricens in der DC her ableiten lässt.
Die Jenseitswanderung ist geleitet von der jedem Menschen innewohnenden Ausgerichtetheit auf die Seinsfülle Gottes hin als seiner eigentlichen Beheimatung (Zielbestimmung), weshalb die DC auch von der Ambivalenz irdischer Sehnsüchte aus zu lesen ist und Inferno und Purgatorio die Verweigerung bzw. das Abdriften diesbzgl. charakterisieren. Die DC lebt von ihrer drastischen Konkretheit, ihrem personalen Bezugsfeld ; ihre Theologie gewinnt dadurch Lebendigkeit, ohne selbst wiederum unkritisch von dieser abgeleitet werden zu können. Wer mit dem Dichter Dante den Weg des Gottsuchers Dante mitgeht, bedarf daher einer unvoreingenommenen Offenheit gegenüber dem, was ihm dort begegnet. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, den Gehalt der DC unter dem Kriterium neuzeitlichen Denkens (etwa unter Federführung psychologischer Interpretationen) aus seiner originären Darstellung herauszubrechen. Dante ist ein Kind seiner Zeit2, er teilt die philosophisch-theologische Weltsicht des Mittelalters und nimmt in der DC die konkreten Menschen in den Blick, denen er im Leben begegnete und die er – heute wie damals in unfassbarer Kühnheit – entweder der Hölle, dem Fegefeuer oder dem Himmel zuordnet (als bedeutende Persönlichkeiten der Zeit Dantes waren sie den damaligen Menschen ebenso bekannt wie die genannten Berühmtheiten der Menschheitsgeschichte ; ihre exemplarische Bedeutung dient der moralischen Intention des Werkes). Dante schreibt seine Dichtung in der Verbannung. Zwischen den Parteikämpfen von Guelfen und Ghibellinen in seiner Heimatstadt Florenz hin und her gerissen, letztlich verfolgt und geächtet, wächst seine Aversion gegen Bonifaz VIII. und das französische Königshaus sowie seine Hoffnung auf einen starken (das Reich einigenden) Kaiser. Gerade weil (und nicht obwohl) Dante seinem Lebenskontext in der DC Ausdruck und Gestalt verleiht, übt sie auf den heutigen Leser eine ungebrochene Faszination aus ; es ist die Konkretheit des menschlichen Einzelschicksals, die den Zugang zu dem großen Gedicht Dantes erleichtert.
Seine Jenseitsreise beginnt am Karfreitag des Jahres 1300 und endet nach einer Woche Wanderschaft mit der Anschauung Gottes. Die drei Lieder (Inferno, Purgatorio, Paradiso) teilen sich in je 33 Gesänge auf, zusammen mit dem Einleitungsgesang ergeben sich für das ganze Gedicht demnach hundert Gesänge.
Dantes Weltbild entspricht dem ptolemäischen. Scholastik und Antike begegnen sich darin nicht unkritisch, da die Commedia ein Zeugnis des christlichen Glaubens darstellt. Der Einfluss des Aquinaten auf die DC ist kaum zu verleugnen und an zahlreichen Stellen belegt. Ein genuiner Beitrag ist zweifelsohne Dantes Staatsauffassung, wie er sie grundlegend in De Monarchia vertritt und woraus sich auch seine kritische Position gegenüber weltlichen Machtansprüchen des Papsttums nährt (die er ganz auf Seiten des gottgewollten Kaisertums verortet wissen will).
Von den verschiedenen Übersetzungen in deutscher Sprache wird für den Mengentext dieser Arbeit vornehmlich die von H. Gmelin herangezogen, die eine möglichst wort- und satzgetreue Wiedergabe des italienischen Textes bietet.3 Da es sich in der Untersuchung um eine theologische Arbeit handelt, spielen literarkritische bzw. philologische Überlegungen keine übergeordnete Rolle.4 Der italienische Text ist ebenfalls der kommentierten Übersetzung von Gmelin entnommen, die den testo critico geglättet, d. h. von veraltet-unverständlichen Elementen befreit, wiedergibt.
Ein Blick in die umfassende Danteforschung zeigt, dass ein theologischer Zugang zur DC nicht unbedingt und selbstverständlich gesucht wird. So will diese Untersuchung auch einen Beitrag zum christlich-religiösen Verständnis der DC leisten, wie es Dantes Anliegen war.
1 Die Divina Commedia als theologisches Werk
1.1 Die theologische Fragestellung
Die vorliegende Arbeit nimmt die Divina Commedia des Dante Alighieri unter theologischem Gesichtspunkt in den Blick.