Die gesunde Schweizer Alpenluft
Kathedralen der Erde
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertrat eine steigende Zahl von Ärzten und Medizinunternehmern die Auffassung, dass das Höhenklima die Lungentuberkulose heilen könne. In der Folge entstand in der Schweiz eine stattliche Zahl von prosperierenden Kurhäusern und Luftkurorten. Diese Entwicklung war nur möglich, weil ein vorteilhaftes Bild der Alpen vorherrschte. Auf die geänderte Wahrnehmung der Berge gehe ich in diesem Kapitel ein. Das einnehmende Bild der Alpen im 19. Jahrhundert schufen insbesondere Künstler und Literaten wie der englische Schriftsteller, Kunsthistoriker und Sozialreformer John Ruskin (1819–1900), der im Abschnitt «The Mountain Glory» seiner einflussreichen Buchreihe Modern Painters 1856 ein erhabenes Bild der Berge zeichnete, welche für ihn den Anfang und das Ende aller natürlicher Szenerie darstellten. Je gebirgiger eine Landschaft, desto schöner wird sie gemäss Ruskin. Als Beweis für diese These zählte Ruskin die Faktoren auf, welche den Alpen Schönheit verleihen würden, etwa die Farben in den Felsen oder die vornehme Wirkung der Bäche und der Wolken.1 Seine Ausführungen münden in seine berühmte Beschreibung der Berge als «Kathedralen der Erde»: «… these great cathedrals of the earth, with their gates of rock, pavements of cloud, choirs of stream and stone, altars of snow, and vaults of purple traversed by the continual stars …»2 Diese Schilderung der erhabenen Alpennatur machte grossen Eindruck auf Ruskins Leserschaft; einige wurden geradezu «infiziert» mit Enthusiasmus für die Alpen.3
Die Wertschätzung der unberührten Alpenwelt war indes nicht immer und überall gleich gross. Die Geschichte der Alpenwahrnehmung ist sehr vielschichtig, wie der Schweizer Historiker Jon Mathieu schreibt, wobei die Alpen nie einfach nur furchterregend oder attraktiv waren. Den Übergang vom alten zum neuen, positiven Alpenbild sieht Mathieu in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Zahl der Reisen in die Schweiz und der Reiseberichte sprunghaft anstieg.4 Im Zeitalter des Barocks galten die «chaotischen Bergesmassen» bisweilen als Ärgernis, ihre Bewohner wurden als krank und ärmlich wahrgenommen, und ihr übernatürlich erscheinendes Naturgeschehen gab über das Mittelalter hinaus Anlass zu Befürchtungen. Der berühmte Kunstgelehrte Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) soll bei der Alpenüberquerung in der Postkutsche die Vorhänge zugezogen haben, «um die schauerliche Landschaft nicht sehen zu müssen».5 Infolge eines neuen Naturgefühls veränderte sich jedoch diese Wahrnehmung. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) verband die neue Wertschätzung der Natur mit einem Loblied auf die Alpen und warb äusserst erfolgreich für die Schweizer Berge. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte der englische Dichter Joseph Addison (1672–1719) eine Ästhetik der Unregelmässigkeit propagiert und soll beim Anblick der unberührten Bergnatur einen angenehmen Schauer verspürt haben, während später Romantiker wie der Engländer George Gordon Lord Byron (1788–1819), welche die Schönheit in den Formen der Natur fanden, das Alpenbild weiter transformierten.6 Auch französische Gelehrte wie der Historiker Jules Michelet (1798–1874) trugen mit ihrer romantischen Beschreibung der Berge zu einer «Religion des Gebirges» bei und zum Glauben an dessen Heilkraft.7 Englische, deutsche und französische Maler wirkten zunehmend in der Schweiz. Der bekannteste unter ihnen, der Engländer Joseph Mallord William Turner (1775–1851), war erstmals 1802 in der Schweiz tätig.8 In England galt es im 19. Jahrhundert geradezu als Zeichen des guten Geschmacks, die Schweizer Alpen zu besuchen, «the great love affair of the English with the mountains had begun».9 Doch waren es nicht nur Romantiker, welche die Reputation der Alpen veränderten und diese ästhetisierten – mit der Renaissance waren die Alpen auch ins Blickfeld von Naturforschern gerückt. Humanisten untersuchten die Pflanzenwelt, sammelten Fossilien und Mineralien, erforschten Geschichten von Teufeln und Ungeheuern und ergründeten Klima und Gebirgsformationen.10 So priesen gelehrte Schweizer Ärzte schon früh die Vorzüge der Berge, etwa der Zürcher Stadtarzt und Naturforscher Konrad Gessner (1516–1565), der die Alpen als wertvollen Teil der göttlichen Schöpfung erlebte, oder Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733), ebenfalls Stadtarzt von Zürich und Naturforscher, der die Alpenwelt positiv bewertete und sich intensiv um deren Erforschung bemühte.11 Der Berner Arzt, Dichter und Naturwissenschaftler Albrecht von Haller (1708–1777) vermochte schliesslich mit seinem Gedicht «Die Alpen» von 1729 eine europaweite Bewunderung für die Alpenwelt zu entfachen. Das Gedicht idealisierte das glückliche und frei lebende Schweizervolk und gab diesem Glück eine alpine Konnotation.12 Die Alpen wurden konstitutiver Bestandteil der schweizerischen Identität. Der heute immer noch bedeutsame Alpenmythos entstand, und auch im Ausland etablierten sich die Alpen im 18. und 19. Jahrhundert als Symbol für politische Freiheit.13
Reisen in die Alpen
Die Entdeckung der Alpen durch Naturforscher und Künstler lenkte auch den Blick von Reisenden aus dem Ausland auf die Alpenregion. Ab 1770 entwickelte sich ein noch bescheidener Fremdenverkehr in der Gegend des französischen Orts Chamonix-Mont-Blanc, welcher von Genf aus aufgesucht wurde.14 In der Folge wurden auch das Berner Oberland und das Wallis Ziel von ausländischen, anfangs vor allem englischen Gästen. Vorerst erschwerten allerdings unterschiedliche kantonale Währungen und schlechte Verkehrswege das Reisen. Die Schweiz begann erst um 1850, später als das Ausland, mit dem Bau von Eisenbahnlinien.15 Leistungen von Alpinisten machten die Alpen weiter bekannt.16 1787 hatte der Genfer Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799) den Montblanc bestiegen, den höchsten Berg der Alpen, und seine Erfahrungen im vierten Band seines Buches Voyages dans les Alpes, das lange Zeit als Standardwerk für Reisende und Naturforscher galt, veröffentlicht.17 Das goldene Zeitalter des Alpinismus begann in den späten 1850er-Jahren, als der Alpinismus Ausdruck des Wohlstands und des Wunsches wurde, der Klaustrophobie der Städte zu entfliehen.18 Berichte von Pionieren wie Edward Whymper, der 1865 als Erster das Matterhorn bestieg, trugen zur Popularisierung der Alpen bei, später auch die Repräsentation der Berge in der Fotografie.19 Daneben machten die erfolgreichen Reisehandbücher des Londoner Verlegers John Murray den englischen Touristen das Reisen in die Schweiz schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schmackhaft. Murrays Handbücher waren auch Vorbild für den vielfach aufgelegten Schweiz-Führer des Koblenzer Buchhändlers Karl Baedeker, der 1844 erstmals veröffentlicht wurde.20
Einen weiteren Aufschwung erlebte der Tourismus im Zeitalter der Lokomotiven und Dampfschiffe durch den Reiseunternehmer Thomas Cook. Ab 1863 bot er Pauschalreisen von England in die Schweiz an. Und 1868 schliesslich besuchte auch Queen Victoria zum ersten Mal die Alpen.21 In den 1860er-Jahren, in denen die Theorie des kurierenden Höhenklimas in der Schweiz bekannt wurde, waren die Alpen also bereits ein beliebtes Reiseziel. Graubünden als Ausgangspunkt der Theorie war allerdings zu dieser Zeit – abgesehen vom Engadin – touristisch noch kaum erschlossen.22 Davos und Arosa, aber auch Leysin oder Montana wurden in der Folge auch nicht aufgrund des Tourismus, sondern wegen der Tuberkulose zu bekannten Ortschaften.23 Umgekehrt entwickelten sich die schon früh von Touristen besuchten Ortschaften wie Grindelwald oder Zermatt nicht zu Zentren der Tuberkulosebehandlung.24 Die Einwohnerzahl von Davos stieg von 2000 im Jahr 1870 auf über 8000 im Jahr 1900. Kein Ort in den Alpen mit über 5000 Einwohnern im Jahr