Fragestellung, Untersuchungsgegenstand und theoretischer Ansatz
Wie kam es nun dazu, dass es unter den Gutbetuchten in ganz Europa «Sitte» war, zur Tuberkulosebehandlung nach Davos oder Arosa zu fahren, wie es Katia Mann beschrieben hat? Dieser Frage gehe ich in meiner Arbeit nach. Mich interessiert, wie sich die Theorie, dass das Höhenklima die Lungentuberkulose heilen könne, nach 1850 in Medizin und Gesellschaft etablieren und bis 1950 bei der Behandlung der Lungentuberkulose eine derart wichtige Rolle spielen konnte. Im Einzelnen ergeben sich daraus folgende Fragen: Wann und in welcher Form tauchte die Theorie des heilenden Höhenklimas in der medizinischen Diskussion auf? Mit welchen Argumenten konnte sie sich in der Medizin etablieren und behaupten? Wie setzten sich ihre ärztlichen Befürworter – die für die Diskussion zentralen Akteure – mit konkurrierenden Theorien auseinander, und wie reagierten sie auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse? Und schliesslich: Wie wirkte sich die Theorie auf die Praxis der Ärzte, auf die Situation von Patientinnen und Patienten und auf die Entwicklung von Höhenkurorten aus? Meine Arbeit geht somit primär wissenschaftsgeschichtlichen Fragen nach und untersucht die Entstehung und Zirkulation von Wissen, daneben kommen auch medizin- und sozialgeschichtliche Aspekte zur Sprache.21 Von Interesse sind auch biografische Bezüge von Ärzten und Wissenschaftlern, die über die Höhentherapie publizierten und diese verteidigten, da ihre persönliche Lebenssituation oftmals in enger Beziehung mit ihrem wissenschaftlichen oder therapeutischen Wirken stand. Untersucht wird in der Arbeit die Zeit zwischen 1850 und 1950. Ab 1850 setzen Ärzte die Idee um, dass hoch gelegene Orte die Lungenschwindsucht heilen könnten. Um 1950 verlor die Höhenbehandlung in Sanatorien an Bedeutung, unter anderem weil nun Antibiotika zur Verfügung standen, die eine Behandlung in Sanatorien nicht mehr zwingend notwendig erscheinen liessen. Davos war gemessen an den Gästezahlen der bedeutendste Kurort, in dem zahlreiche Interessenvertreter der Höhenkur tätig waren.22 Zudem entstanden wissenschaftliche Studien, welche die «Heilkraft» des Höhenklimas bei Lungentuberkulose belegen sollten, häufig in Davos, weshalb Davos als Pionierort und bekanntester Höhenkurort in dieser Arbeit häufig vorkommt. Es geht mir jedoch nicht um die Lokalgeschichte dieses Ortes, vielmehr sind auch andere hoch gelegene Orte in der Schweiz Schauplatz des Buches. Insgesamt waren es nämlich schweizerische Ortschaften, denen es gelang, eine heilsame Höhenklimawirkung geltend zu machen, obwohl der Anteil der Schweiz an den Alpen flächenmässig deutlich kleiner ist als derjenige von Österreich oder Italien. Dennoch kommen in meiner Studie auch Orte und Mediziner aus anderen Ländern vor: So wurde die Höhentherapie konzeptionell und methodisch um 1850 von einem Arzt im damals preussischen Schlesien entwickelt, und auch in anderen Ländern setzten Mediziner auf die therapeutische Wirkung von erhöhten Gegenden. Zudem hatte die Höhenkur in der Schweiz internationale Ausstrahlung, weshalb auch Ärzte aus anderen Ländern ihre Patienten zur Lungenkur ins Hochgebirge sandten.
In theoretischer Hinsicht nehme ich eine konstruktivistische Perspektive ein. Ich gehe davon aus, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medizin nicht einfach die Entdeckung einer natürlichen Ordnung darstellen, welche unabhängig vom menschlichen Handeln existiert.23 Vielmehr können die Beziehungen zwischen Menschen und ihre sozialen Interessen zur Erklärung beitragen, wie es zu bestimmten wissenschaftlichen Aussagen kommt.24 So wurde die Höhenkur auch deshalb wichtig, weil Mediziner geschickt ihre Interessen vertraten und Verfechter der Höhenbehandlung unablässig Artikel und Studien über heilsame Faktoren des Höhenklimas publizierten. Ein Artikel ist gemäss dem Wissenschaftssoziologen Bruno Latour «eine kleine Maschine, um Interessen, Überzeugungen zu verschieben und in einer Weise zu orientieren, dass der Leser gleichsam unweigerlich in eine bestimmte Richtung gelenkt wird».25
Die Erforschung von Interessen, welche Theorie und Praxis der Medizin formen, wird als wichtiges Thema der Geschichtswissenschaft angesehen.26 Wissenschaftshistoriker stellen sie aber auch infrage, etwa weil sich der kausale Zusammenhang zwischen Interessen der Akteure und medizinischem Inhalt nicht belegen lasse.27 Interessen der damaligen Akteure geltend zu machen, nimmt zudem in Anspruch, deren Intentionen erkennen zu können.28 Ich halte es jedoch für angemessen, in dieser Arbeit über die Höhenkur eine Interessentheorie zu verwenden – weil Interessen wie das Streben nach Macht, Geld und Autorität in den Quellen fassbar werden: Viele der Ärzte, welche zur Höhenbehandlung der Tuberkulose anmahnten, zogen als Kurärzte oder Mitbesitzer von Kurhäusern und Sanatorien einen direkten finanziellen Nutzen daraus – der Medizinhistoriker Vincent Barras spricht vom Typus des «entrepreneur médical».29 Dies verweist auf die Gesundheitsökonomie mit ihrer Theorie der «angebotsinduzierten Nachfrage»: Der Arzt ist Anbieter von Leistungen, zugleich berät er die Patienten beim Entscheid, welche Leistungen sie nachfragen sollen.30 Die Ärzte haben so die Möglichkeit, die Nachfrage nach Therapien zu steuern. Ärzte können ihr Einkommen erhöhen, wenn sie mehr Patienten mehr medizinische Leistungen nachfragen lassen. Allerdings wäre es eine unzutreffende Verkürzung, den Einsatz der Ärzte für das Höhenklima auf finanzielles Eigeninteresse zu reduzieren. Nicht alle Ärzte, welche die Höhenbehandlung befürworteten, profitierten persönlich davon. Zudem waren wohl viele Ärzte in Übereinstimmung mit ihrer Berufsethik davon überzeugt, zum Wohl ihrer Patienten zu handeln. Die Ärzteschaft war in den ersten Jahren des Untersuchungszeitraums noch immer bestrebt, sich in der Gesellschaft als Heilkundige zu etablieren. Der «Aufstieg» der Ärzte konnte sich nur vollziehen, wenn sie Therapieangebote bereithielten, die Heilung versprachen.31
Selbstredend vermögen soziale Faktoren die Theorie des heilenden Höhenklimas allein nicht zu erklären. Diese ist nur in ihrer Vermittlung mit dem durchaus realen, vielfach tödlichen Wirken der Krankheit Tuberkulose zu verstehen. Eine einseitige soziologische Erklärung von wissenschaftlichem Wissen wird denn auch kritisiert.32 Zudem konnten die Aussagen und Argumente, welche die Ärzte in den von mir untersuchten Quellentexten entwickelten, ihre Durchschlagskraft auch unabhängig von Intentionen und Interessen der Akteure gewinnen. Damit sie «wahr» wurden, mussten sie aber an bestimmte historische Bedingungen und Umstände anknüpfen können, wie etwa an das breit akzeptierte Denkmuster einer positiven Wahrnehmung der Alpen.33 Da die Theorie des kurierenden Höhenklimas wiederholt von Kritikern infrage gestellt wurde, sei es von Wissenschaftlern oder Anbietern konkurrierender Therapiemöglichkeiten, betrieben die Verfechter der Höhenkur viel Aufwand, um ihre Position verbessern zu können – mit Erfolg: Es gelang ihnen immer wieder, die These des heilsamen Höhenklimas in der medizinischen Diskussion zu stärken. In Davos gründeten sie eigene Forschungsinstitute, um Belege für die behauptete Heilwirkung des Höhenklimas vorweisen zu können. Diese Forschung funktionierte keineswegs losgelöst von praktischen und monetären Interessen der Geldgeber, den Bündner Behörden und Ärzten. Meine Arbeit wirft somit auch ein Schlaglicht auf eine grundsätzliche, wenn auch oft verdrängte Eigenschaft wissenschaftlicher Forschung.34
Quellen und Forschungsstand
Um darzulegen, wie sich die Theorie des heilenden Höhenklimas in der Medizin etablieren und behaupten konnte, untersuchte ich Artikel, Aufsätze und andere Schriften von Ärzten und von Medizinern an Universitäten und Forschungseinrichtungen. Texte von Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen sind weniger vorhanden, dass es insbesondere im 19. Jahrhundert erst eine kleine Zahl von Medizinerinnen gab. Texte von Frauen stammen vornehmlich aus den letzten Jahren des Untersuchungszeitraums.35 Hauptquelle sind Artikel aus medizinischen Fachzeitschriften. Systematisch ausgewertet habe ich das Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, welches 1871 gegründet und 1920 in Form von zwei Zeitschriften weitergeführt wurde: als Schweizerische Medicinische Wochenschrift und als Ärztezeitung. Das Correspondenz-Blatt war in der Schweiz das zentrale Organ für medizinische Wissenschaft und Standesfragen.36 In ihm lassen sich, wie später auch in der Schweizerischen Medicinischen Wochenschrift, die medizinischen Diskussionen wie diejenige über die Behandlung der Lungentuberkulose verfolgen. In den Fachzeitschriften schrieben Medizinprofessoren oder Ärzte für ein medizinisches Fachpublikum und beeinflussten die medizinische Meinungsbildung entscheidend. Weiter zählen zu meinem Quellenmaterial Schriften von Ärzten, Medizinwissenschaftlern oder Naturforschern, welche sich für die Diskussion über die Höhenbehandlung