Die Thesen der Mediziner in Fachartikeln blieben nicht graue Theorie, sondern prägten das Handeln von Ärzten und von Patientinnen und Patienten: Immer mehr tuberkulosekranke Menschen strömten zur Höhenkur in eine steigende Zahl selbst ernannter Höhenkurorte. Die Schweiz habe von der Tuberkulose profitiert, schreibt der Medizinhistoriker Francis Barrymore Smith: Verarmte Bergtäler wurden durch die Behandlung der Lungentuberkulose zu Goldgruben.6 Wichtigster Schauplatz dieser Entwicklung war die Landschaft Davos im Landwassertal.7 Der Davoser Landschaftsarzt Alexander Spengler griff um 1860 geschickt die in der medizinischen Diskussion zirkulierenden Theorien über eine heilsame Wirkung des Höhenklimas auf und erkannte als einer der Ersten das Potenzial einer hoch gelegenen Landschaft in den Alpen als Höhenkurort. Spengler tat sich mit Financiers und Unternehmern zusammen. Der Bündner Kurort entwickelte sich in der Folge zum Inbegriff der Tuberkulosebehandlung und erlebte von 1890 bis 1914 seine Glanzzeit.8 Den Höhenkurorten kam zugute, dass die Schweizer Alpen seit dem 18. Jahrhundert auf ein steigendes Interesse von Künstlern, Naturforschern oder Reisenden gestossen waren und eine vorteilhafte, bisweilen geradezu erhabene Wahrnehmung der Alpen entstehen konnte. Es ist die These dieser Arbeit, dass Davos und später andere Orte in den Schweizer Alpen – anders als in der Fachliteratur häufig beschrieben – nicht wegen eines der Natur innewohnenden Heilfaktors zu berühmten Luftkurorten wurden, sondern weil sie sich clever als Orte der Gesundheit vermarkteten. Der Aufenthalt in Schweizer Höhenkurorten erschien wohlhabenden Patientinnen und Patienten in Europa dadurch beinahe als selbstverständlich: «Es war Sitte, wenn man die Mittel dazu hatte, wurde man nach Davos oder Arosa geschickt», berichtet Katia Mann im Buch Meine ungeschriebenen Memoiren.9 Sie weilte 1912 wegen einer vermeintlichen Lungentuberkulose ein halbes Jahr in Davos und ein Jahr später in Arosa und gab mit ihren Berichten über den Kurbetrieb ihrem Ehemann Anregungen für den Zauberberg.10
In der Schweiz wurden zahlreiche Sanatorien in hoch gelegenen Ortschaften gebaut. Doch auch Sanatorien und Kurhäuser im Flachland oder am Mittelmeer boten lungenkranken Patienten ihre Dienste an. Schweizer Höhenkurorte wie Arosa, Leysin, Crans-Montana oder eben Davos, die ebenfalls um eine zahlungskräftige ausländische Klientel buhlten, waren ständig bestrebt, sich gegen diese zu behaupten, und setzten alles daran, die Wirkung des Höhenklimas mithilfe von wissenschaftlichen Studien und eigenen Forschungsinstitutionen zu belegen. Beispielhaft ist die Stellungnahme des Davoser Arztes und Sanatoriumseigners Rudolf Wolfer von 1933: Die wissenschaftliche Ergründung der Kuren im Höhenklima stelle die beste Förderung der Höhenkurorte «auch in wirtschaftlicher Hinsicht dar». Insbesondere müsse mit wissenschaftlichen Studien dafür gesorgt werden, dass die Ärzte von einer Behandlung im Höhenklima überzeugt würden, denn diese seien die «Berater» ihrer Patienten. Als Höhenklima im medizinischen Sinn definierten Forscher den Höhenbereich zwischen 1200 und 1800 Meter über Meer.11 Tatsächlich vermochten Vertreter der Klimatherapie Ärzte von der Wichtigkeit des Höhenklimas zu überzeugen. Die Beschreibungen eines heilsamen Effekts des Hochgebirges auf die Tuberkulose trugen ab den 1860er-Jahren dazu bei, dass hoch gelegene Ortschaften in den Schweizer Bergen geradezu als Quelle der Gesundheit erschienen. Das Klima und die Ortschaften selbst erhielten einen «heilträchtigen Nimbus», der immer weitere Patientinnen und Patienten in Höhenkurorte lockte.12 Berge wurden mit der «magischen Eigenschaft» versehen, Körper und Seele zu regenerieren, was auch die Entwicklung von Tourismuszentren in den Alpen beförderte. Die Entstehung des Wintertourismus in der Schweiz vor 150 Jahren ist denn auch eine Folge der Behandlung von Lungenkranken.13 Exemplarisch kommt die Vorstellung des heilenden Bergs im Slogan von Otto Morachs oft reproduziertem Werbeplakat für Davos aus dem Jahr 1926 zum Ausdruck: «Der Weg zur Kraft u. Gesundheit führt über Davos».14
Plakat von Otto Morach im Auftrag des Verkehrsvereins Davos, um 1926.
Unabhängig davon, ob die Tuberkulosebehandlung im Höhenklima oder wie in Deutschland oder England in einem Sanatorium im Flachland stattfand: Zentrales Element der Therapie war, dass sich die Patientinnen und Patienten möglichst lang an der frischen Luft aufhielten. Neben der Luft war ab 1900 für manche Mediziner auch das Licht entscheidend für die Therapie. Ärzte beschrieben die Tuberkulose als «Krankheit der Dunkelheit», die durch lichtarme, rauchbelastete Wohn- und Arbeitsverhältnisse in den Städten gefördert wurde. Ausserhalb der Industriezentren gelegene Lungenheilanstalten versprachen dank frischer Luft und Sonnenlicht Heilung. Aufgrund der Tuberkulosetherapie wurden Licht, Luft und Sonne zum Inbegriff von Gesundheit, was auch auf Kunst und Architektur ausstrahlte. Es entstanden spezielle Heilanstalten, Sanatorien mit geschützten Balkonen und Liegehallen, welche den Patienten den «Genuss» von möglichst viel Luft und Licht ermöglichten. Auch im Wohnhausbau der Moderne hielt dieses Ideal mit dem Einbezug von Balkonen, Terrassen oder grossen Fenstern Einzug.15 Und noch heute ist die «gute Bergluft» ein wichtiges Element für die Vermarktung der Alpenregion.16 Kürzlich hat die Regierung des Kantons Graubünden den «Gesundheitstourismus» zu einem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit erhoben und dabei auf die Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte «gesundheitsfördernde Wirkung des Hochgebirgsklimas» verwiesen.17 Und selbst in der neuesten Fachliteratur über Davos wird die Meinung vertreten, dass das Höhenklima die Tuberkulose heile.18
Einige elegante Bauten in Davos oder Leysin erinnern noch an die Sanatoriumsbehandlung, die während Jahrzehnten als Standardtherapie bei Lungentuberkulose galt. Zahllose Patienten suchten Heilung in solchen Heilstätten, nicht selten vergeblich. In der Schweiz war von 1891 bis 1900 mehr als jeder zehnte Todesfall auf Lungentuberkulose zurückzuführen.19 Wirksame Medikamente gegen die «weisse Pest» fehlten bis Ende der 1940er-Jahre, als gegen das Tuberkulosebakterium wirkende Substanzen erhältlich wurden. Die Hoffnung, die Tuberkulose mit den Antibiotika besiegen zu können, erfüllte sich trotz eines Rückgangs der Krankheit in den folgenden Dekaden nicht. Heute stellt die Tuberkulose nach wie vor eine äusserst gefährliche Infektionskrankheit dar: Zwei Milliarden Menschen sind Träger des Tuberkulosebakteriums, jährlich sterben rund eineinhalb Millionen Menschen an dieser Krankheit. Regelmässig berichten Medien über die «Rückkehr der Tuberkulose» nach Westeuropa und in die USA. Resistente Keime erschweren die medikamentöse Therapie, Patienten mit schweren Resistenzen können