Auch in der Textilbranche versuchten Einheimische, das Heft selbst in die Hand zu nehmen und nicht mehr von auswärtigen Verlegern abhängig zu sein. 1821 gründeten Heinrich Wyss und Josef Karl B.-Fuchs (1762–1841) am Fluss Alp in Einsiedeln die mechanische Baumwollspinnerei mit dem klingenden Namen «Schöngarn». Es war eine der ersten mechanischen Spinnereien der Zentralschweiz.73 Zwei Jahre später folgte die Spinnerei «Zur Alpbrücke», die ebenfalls einheimische Unternehmer gründeten.74 Von anderen Regionen der Innerschweiz ist bekannt, dass die ersten Fabrikgründungen häufig mit Kapital aus dem Kanton Zürich angestossen wurden und ohne zürcherisches Know-how nicht überlebt hätten.75 Auch in Einsiedeln gab es Investitionen von Zürcher Unternehmern. 1854 beispielsweise übernahm Caspar Honegger, der «Weberkönig» aus Rüti ZH, die mechanische Baumwollspinnerei «Schöngarn» und unterzog sie einer tiefgreifenden Restrukturierung.76 Solche Fälle blieben allerdings die Ausnahme. Auch gab es in Einsiedeln kaum Zuwanderung von Fachkräften aus protestantischen Gebieten. Der Anteil von Protestanten blieb in Einsiedeln im 19. Jahrhundert stets unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung und war somit deutlich geringer als beispielsweise in den Ausserschwyzer Bezirken March und Höfe.77 Im Falle des Benziger Verlags stammten auswärtige Fachkräfte ohnehin häufiger aus dem Ausland – vor allem aus Deutschland –, als aus den umliegenden Kantonen.78
Einsiedeln als «liberale Hochburg»
Es ist bezeichnend, dass die grosse Mehrheit der in der ersten Jahrhunderthälfte geborenen Einsiedler Unternehmensgründer politisch liberal gesinnt waren (Tab. 3, S. 372). Der ehemalige Untertanenort, in dem es keine ausgeprägte alte Elite gab, galt im 19. Jahrhundert als «liberale Hochburg» des Kantons.79 Einsiedler Politiker gehörten zu den Wortführern, als sich der Kanton Schwyz im Jahr 1833 vorübergehend in einen konservativen inneren und einen liberalen äusseren Kanton teilte: Einsiedeln war, alternierend mit Lachen im Bezirk March, als Hauptort des Kantons «Schwyz äusseres Land» vorgesehen. Auch dem Sonderbund standen viele Einsiedler skeptisch gegenüber. Sie empfingen die siegreichen eidgenössischen Truppen im November 1847 mit «feierlichem Glockengeläut».80 1848 war Einsiedeln einer von nur zwei Bezirken des Kantons, die der neuen Bundesverfassung zustimmten.81
Allerdings gilt es zu betonen, dass die Bezeichnungen «liberal», «radikal» und «konservativ» im Kanton Schwyz nicht zwingend mit der eidgenössischen Bedeutung identisch sein mussten.82 Die Einsiedler Liberalen befanden sich in einer doppelten Oppositionsrolle. Eine liberale Gesinnung zu haben, bedeutete in Einsiedeln zum einen, die Privilegien des Alten Landes Schwyz zu hinterfragen und für eine gerechte Verfassung einzutreten, die allen Bürgern gleiche Rechte gewähren sollte. Liberal sein bedeutete aber auch, das Kloster, das politisch oft mit Schwyz zusammenspannte, in seinem Bestreben zu bekämpfen, wirtschaftlich und politisch auf den Bezirk Einfluss zu nehmen. Die Einsiedler Liberalen grenzten sich aber deutlich von den Radikalen und Liberalen auf eidgenössischer Ebene ab, die 1844 in Luzern an den Freischarenzügen teilnahmen, und sie waren gegen jegliche Klosteraufhebungen, wohlwissend, dass das Kloster und die Wallfahrt die Quelle ihres relativen Wohlstands waren.83
Wallfahrt und Wallfahrtsindustrie
Die Wallfahrten nach Einsiedeln war in den Jahrzehnten um 1800 merklich zurückgegangen: teils der politisch unsicheren Zeiten wegen, teils weil weltliche und auch geistliche Obrigkeiten sie als Zeitverschwendung und voraufklärerisches Relikt aktiv bekämpften. Zudem machten sich in breiteren Bevölkerungsschichten Tendenzen der Säkularisierung bemerkbar, die auch die religiöse Praxis beeinflussten.84
Ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und verstärkt in den 1860er-Jahren ist jedoch wieder ein Aufschwung der Wallfahrt festzustellen. Dies lässt sich mit moderneren Transportsystemen – besseres Strassennetz, Dampfschiff, Eisenbahn – erklären, welche die Reisezeit für die Pilger massiv verkürzten. Der Aufschwung ist aber auch im Kontext der katholischen Revitalisierungsprozesse zu situieren, die international zu beobachten waren. Die Wallfahrt war ein integraler Bestandteil einer katholischen Massenbewegung, die sich im 19. Jahrhundert gegen den als negativ empfundenen modernen Zeitgeist formierte.85
In der Zeit zwischen 1860 und Erstem Weltkrieg zählte Einsiedeln durchschnittlich rund 170 000 Pilger pro Jahr. Wenn wir die Pilgerzahlen jedoch für einen längeren Zeitraum von etwa 1700 bis 1900 betrachten, zeigt sich, dass sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar etwas ansteigen, insgesamt aber erstaunlich konstant bleiben.86 Der Aufschwung der Wallfahrt ist indes nicht nur als quantitatives Phänomen zu verstehen. Sie erhielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine neue Qualität. Neben den traditionellen Landes- und Pfarreiwallfahrten kamen moderne Pilgerzüge auf, die Laien aus privatem Antrieb organisierten, sowie katholische Versammlungen und Grossveranstaltungen, die im Wallfahrtsort stattfanden und ebenfalls eine neue Spielform der traditionellen Wallfahrt darstellten. Einsiedeln entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Schaubühne des internationalen Katholizismus.87
Während in anderen Orten der Innerschweiz der Tourismus für wirtschaftliche Impulse sorgte,88 war es in Einsiedeln die Wallfahrt. Vor allem die Wirte der zahlreichen Gasthäuser profitierten von ihr. Die Steuerregister von 1848 führten unter den zwölf vermögendsten Einsiedlern nicht weniger als sieben Wirte.89 Zahlreiche Wirte hatten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder ins Gastgewerbe investiert, nachdem die Branche während der französischen Besetzung völlig zusammengebrochen war. Gerold Meyer von Knonau zählte 1835 in seiner Darstellung «Der Kanton Schwyz» bereits wieder 55 Wirtshäuser und 20 «Pintenschenken», also etwa gleich viele Betriebe wie zu Spitzenzeiten im 18. Jahrhundert.90 Die Zahl der Gastbetriebe nahm in den folgenden Jahrzehnten weiter zu. In den 1870er-Jahren wurden in Einsiedeln 25 «Pinten» und rund 70 Wirtshäuser gezählt.91
Weltliche Aspekte waren schon in der Vormoderne ein fester Bestandteil der Wallfahrt gewesen, und auch im 19. Jahrhundert blieb die Wallfahrt für viele Gläubige nicht nur eine religiöse Reise, sondern auch eine «Lustreise».92 Der Wirtshausbesuch, der Spaziergang in der näheren Umgebung und Souvenirs gehörten einfach dazu. Nun aber vermischten sich ältere Formen der Wallfahrt mit neuen Formen des touristischen Reisens. Peter Hersche sieht gar einen direkten Weg von der vormodernen Wallfahrt in die «Freizeit- und Erlebniskultur» unserer Tage.93
Zur selben Zeit entwickelten sich die verschiedenen der Wallfahrt zudienenden Gewerbe in Einsiedeln zu einer regelrechten Industrie. Der Historiker und Mönch Odilo Ringholz bezeichnete die Wallfahrtsindustrie als eine «nothwendige Folge» der Wallfahrt.94 Dazu zählte er neben dem Gastgewerbe alle Geschäfte, die wie der Benziger Verlag Gebetbücher, Bilder und Devotionalien industriell herstellten. 1908 soll es in Einsiedeln 68 Devotionalienunternehmungen gegeben haben. Für den lokalen Marktleader «Devotionalien Rickenbach» sollen damals achtzig Heimarbeiterinnen tätig gewesen sein.95 Auch Künstler und Kunsthandwerker zählte Ringholz zur Wallfahrtsindustrie. Kaum mehr bekannt sind jene Künstlerbiografien, vor allem im Bereich des Wachsbossierens, die ab dem 18. Jahrhundert aus dem Umfeld der Einsiedler Wallfahrtsindustrie hervorgingen.96
Heute ebenfalls weitgehend vergessen ist, dass Einsiedeln am Ende des 19. Jahrhunderts ein schweizweites Zentrum der Herstellung und Verbreitung religiöser Statuen war. In der Firma Lienhardt, einem der grösseren Unternehmen dieser Art am Platz, produzierten und verkauften um 1880 zwölf Angestellte religiöse Statuen. Das Unternehmen, das der ehemalige Klosterbuchdrucker Matthäus Lienhardt 1798 gegründet hatte, war spezialisiert auf Einsiedler- und Lourdes-Madonnen, Herz-Jesu- und Herz-Mariä-Statuen. Es belieferte sowohl Geschäfte im Dorf als auch auswärtige Kunden.97
Genaue Angaben zur Zahl der Personen zu machen, die einer direkt von der Wallfahrt abhängigen Arbeit nachgingen, ist freilich kaum möglich. Wo soll man den Bauern einordnen, der über den Winter in Heimarbeit Devotionalien herstellte? Wo seine Frau,