Zwischen Unternehmen und Umwelt bestehen also fliessende Grenzen. Bereits Ende der 1970er-Jahre führte der Betriebsökonom R. Edward Freeman den Begriff «Stakeholder» ein, um Manager von Firmen dafür zu sensibilisieren, welchen Akteursgruppen – neben Mitarbeitern, Kunden, Aktionären – man besondere Aufmerksamkeit schenken müsse.23 Stakeholder waren für Freeman Gruppen oder Individuen, die in irgendeiner Form ein Interesse an den inneren Vorgängen, am Erfolg oder Misserfolg einer Firma haben.24 Klassische Stakeholder sind nach Freeman beispielsweise Gewerkschaften, Verbände oder die Standortgemeinde. Alle diese Akteure seien für die Entwicklung einer Firma relevant, weshalb es einen Minimalkonsens zwischen ihnen herzustellen gelte. Freeman machte damit auf die Notwendigkeit für eine Firma aufmerksam, ein soziales Gleichgewicht mit ihrer Umwelt herzustellen, und rückte gegenüber den firmeninternen Organisationsstrukturen allgemein soziale Faktoren in den Vordergrund. Der Stakeholder-Ansatz wurde in der ökonomischen Theorie und Praxis breit rezipiert. Einfluss hatte er insbesondere auf die Literatur in den Bereichen der Unternehmensstrategie. Er diente aber auch als theoretische Grundlage für die Behandlung von Fragen über die ethische und soziale Verantwortung von Unternehmen. Insgesamt ist der Stakeholder-Ansatz im Feld der «Koalitionstheorien» anzusiedeln, die ein Unternehmen als eine Koalition verschiedenster Interessengruppen auffassen. Koalitionstheorien fanden in den vergangenen beiden Jahrzehnten vermehrt auch Eingang in die unternehmenshistorische Forschung.25
Die beiden skizzierten Ansätze stammen aus unterschiedlichen Disziplinen. Sie haben allerdings mindestens zwei Punkte gemeinsam: Erstens legen sie den Fokus auf den Austausch eines Unternehmens mit seiner Umwelt, und zweitens interessieren sich beide für die an einem Unternehmen beteiligten Akteure und ihre Handlungsspielräume. Eine Unternehmensgeschichte, die von diesen Ansätzen ausgeht, interessiert sich also für Aushandlungsprozesse, die in einem sozialen Raum stattfinden, kurz: für die von den Unternehmern und mit einem Unternehmen verbundenen Gruppen betriebene «Mikropolitik».
Was bedeutet dies nun für unser Thema? Zunächst erscheint es mir wichtig, die Geschichte des Benziger Verlags aus verschiedenen Blickwinkeln und im Austausch mit seiner Umwelt zu untersuchen. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass sich das Unternehmen gerade in Einsiedeln, einem religiösen Zentrum und Wallfahrtsort, entwickelte. Die Ausrichtung und die unternehmerische Strategie, ja überhaupt die Entwicklung des Unternehmens, waren stets eng mit dem Standort Einsiedeln verbunden. Die Wechselwirkungen zwischen Benziger und dem lokalen Umfeld gilt es deshalb ernst zu nehmen. Genauso lohnt es sich aber auch das Verhältnis des Unternehmens zu grösseren, sich international vollziehenden historischen Entwicklungen im Auge zu behalten. So prägten beispielsweise zahlreiche Innovationen im Bereich der Reproduktionstechnologie die Firma. Wann hat sie welche neuen Technologien übernommen? Hat sie allenfalls auch zu deren Weiterentwicklung aktiv beigetragen? Vor allem aber ist die Firmengeschichte im Kontext des allgemeinen religiösen Revivals im 19. Jahrhundert zu sehen. Der religiöse (Wieder-)Aufschwung – gerade auch des Katholizismus – hat erst den Nährboden für den Massenabsatz eines katholischen Medienunternehmens wie Benziger und zahlreicher weiterer in ganz Europa geschaffen. Dabei gilt es allerdings, die Handlungsspielräume der an dieser neuen Industrie beteiligten Akteure nicht zu vernachlässigen. Wie und entlang welcher Netzwerke wurde der Markt für katholische Waren geschaffen? Wie genau hat sich ein Unternehmen wie Benziger aktiv am religiösen Revival beteiligt?
Zweitens gilt es die Mehrfachidentitäten der Unternehmer als Unternehmer und Katholiken ernst zu nehmen. Es soll in dieser Arbeit nicht um die wirkmächtige These Max Webers beziehungsweise seiner Epigonen über die Unvereinbarkeit des Katholizismus mit dem Kapitalismus gehen, sondern vielmehr darum, zu untersuchen, was der Katholizismus, katholische Überzeugungen und nicht zuletzt das Verhalten von Kirchenvertretern konkret für die Verleger und ihr Unternehmen bedeuteten. Wie stellte sich das Unternehmen beispielsweise zur im 19. Jahrhundert zunehmend dominierenden ultramontanen Richtung? Ich gehe davon aus, dass die katholische Kirche beziehungsweise ihre Exponenten auf unterschiedlichen Stufen der Hierarchie ein Interesse am Erfolg eines katholischen Medienhauses wie Benziger hatten, sich also als Stakeholder des Unternehmens verstehen lassen. Es stellt sich somit die Frage, welche katholischen Individuen und Gruppen in welcher Form an der Firma beteiligt waren, wie sich das Verhältnis über die Zeit entwickelte und wo es allenfalls auch Zielkonflikte gab. Gerade die Frage nach den Zielkonflikten erscheint mir ergiebig, zumal ein katholisches Verlagshaus in stärkerem Masse als etwa ein in der Textil- oder Maschinenindustrie tätiges Unternehmen ideologisch diffizile Produkte – Gebetbücher, Zeitschriften und religiöse Bilder – herstellte, deren Inhalte von verschiedenen Interessengruppen begleitet und allenfalls auch kritisiert wurden. Die Geschichte des Benziger Verlags lässt sich also in Anlehnung an Berghoff als eine «Unternehmensgeschichte als Religionsgeschichte» erzählen oder genauer: als eine Geschichte des Katholizismus in der Moderne.
Quellen und Literatur zum Benziger Verlag
Quellen
Die Arbeit stützt sich hauptsächlich auf das umfangreiche und bislang noch kaum bearbeitete Material im Nachlassarchiv des Verlags in Einsiedeln. Das Nachlassarchiv wurde nach der Übernahme des Benziger Verlags durch die Patmos Verlagsgruppe 1994 und der Schliessung der grafischen Betriebe in Einsiedeln 2003 in die Stiftung Kulturerbe Einsiedeln überführt und ist seit 2010 öffentlich zugänglich.26 Es umfasst rund 500 Laufmeter mit Buch- und Bildpublikationen des Verlags vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert, zahlreiche Druckplatten, Lithographiesteine, Klischee-, Farb- und Musterbücher sowie rund 200 Laufmeter Akten und weitere Materialien zur Firmengeschichte, darunter Kataloge, Rechnungsbücher, Verwaltungsratsprotokolle und Hunderte von Kopierbüchern mit Korrespondenz zwischen dem Mutterhaus in Einsiedeln und den Filialen, zwischen dem Verlag und Lieferanten, Kunden, Autoren, Künstlern und weiteren Personen. Seit den späten 1990er-Jahren wurde das Archiv zudem mit Material zur Geschichte der Verlegerfamilie Benziger und weiteren am Verlag beteiligten Familien geäufnet, das sich noch bei den Nachkommen befand und auch einen stärker sozialhistorisch orientierten Blick auf die Verlagsgeschichte ermöglicht.
Der Archivbestand ist weitgehend erschlossen, wenn auch auf einer sehr summarischen Ebene. Für diese Arbeit wurden die Bestände für den Zeitraum bis etwa 1920 systematisch gesichtet und daraus ein vielfältiger Quellenkorpus zusammengestellt. Besondere Berücksichtigung fanden die zahlreichen überlieferten Kataloge (ab 1800), die einen guten Überblick über die Produktion geben, die Korrespondenz mit Künstlern und Autoren (ab dem Generationenwechsel 1860 zunehmend systematisch), die Kopierbücher mit der ausgehenden Korrespondenz in die amerikanischen Filialen (1862–1897) sowie die Protokolle des Verwaltungsrats (ab 1897). Es hat sich gezeigt, dass die Zeit bis etwa 1850 nur sehr lückenhaft dokumentiert ist. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigt die Materialdichte – analog zur Expansion des Unternehmens – sprunghaft an, was insbesondere mit der Modernisierung und der Professionalisierung der firmeninternen Verwaltungsstrukturen zusammenhängen dürfte. Die Darstellung der Zeit nach 1920 stützt sich weitestgehend auf Sekundärliteratur, Zeitungsartikel sowie Fest- und Jubiläumsschriften; für diesen Zeitraum wurde Material aus dem Nachlassarchiv nur punktuell hinzugezogen.
Das Material aus dem Nachlassarchiv wurde ergänzt mit Quellen aus weiteren Archiven: so etwa dem Klosterarchiv Einsiedeln und dem Bezirksarchiv Einsiedeln. Im Staatsarchiv Schwyz wurde unter anderem der Nachlass von Direktor Oskar Bettschart (1882–1960) konsultiert, in dem sich vereinzelt auch Quellenmaterial aus der Zeit vor 1850 befindet; im Staatsarchiv Nidwalden die Briefsammlung von Kunstmaler Melchior Paul von Deschwanden (1811–1881); in der Sondersammlung der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern ein Briefnachlass von Nikolaus Benziger (1830–1908); im Literaturarchiv