Als zweiten Indikator betrachten wir, wie das Unternehmen über die Zeit technische Innovationen implementierte. Während Jahrhunderten hatte sich in der Druckerbranche in technischer Hinsicht wenig bewegt. Noch 1820 waren in den kontinentaleuropäischen Druckereien hölzerne Handpressen die Regel. Mit der Industrialisierung lösten eiserne Pressen die hölzernen ab. Bald folgten dampfbetriebene Schnellpressen, die eine höhere Auflage zu weit tieferen Preisen ermöglichten.
Mit dem technischen Wandel veränderte sich auch die Druckerei- und Verlagstopografie. Einige der traditionellen Buchdruckereizentren wie Nürnberg und Augsburg verloren im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Gleichzeitig entstanden zahlreiche neue Druckereiunternehmen.119 Karl Faulmanns «Illustrirte Geschichte der Buchdruckerkunst» von 1882 bietet für Deutschland ein Verzeichnis von 440 Orten, in denen bis zum Jahr 1800 Druckereien gegründet worden waren. Ein «Adressbuch der Buchdruckerkunst» listete 1854 bereits 1400 Buchdruckereien in etwa 780 Orten in Deutschland auf. Bis 1883 verdoppelte sich die Zahl der Buchdruckereien in Deutschland auf rund 2800. Hinzu kamen 1300 Steindruckereien und 750 Betriebe, die sowohl Buch- wie Steindruck ausübten.120 In der Schweiz verlief die Entwicklung ähnlich. Hier verdreifachte sich die Zahl der Buchdruckereibetriebe zwischen 1835 und 1883 von 105 auf über 300.121
Wollten diese Druckereiunternehmen dauerhaft bestehen, durften sie sich dem technischen Wandel nicht entziehen. Verschiedene neue Reproduktionsverfahren wurden entwi ckelt und für die industrielle Massenproduktion nutzbar gemacht. Anhand der Geschichte der Firma Benziger lässt sich diese Entwicklung gut nachzeichnen.
Im Jahr 1833 übernahmen Josef Karl B.-Meyer und Nikolaus B.-Benziger I gemeinsam das väterliche Geschäft. Die Söhne waren damals 34 und 25 Jahre alt und hatten bereits seit ihrer Jugend im Geschäft mitgearbeitet. Der Betrieb, den sie übernahmen, bestand aus dem Gebetbuchverlag, einer Devotionalienhandlung und einer bescheidenen Produktionsstätte für Rosenkränze. Josef Karl und Nikolaus dehnten in den folgenden Jahrzehnten das Geschäftsfeld sukzessive aus. Noch im Jahr 1833 richteten sie eine eigene Druckerei ein. Zuvor hatten sie Druckaufträge in den Druckereien ihrer Cousins Marianus und Sales Benziger ausführen lassen.122 In der Mitte der 1830er-Jahre begannen sie mit dem Aufbau eines Andachtsbilderverlags und richteten dazu eine eigene lithographische Anstalt ein. 1856 folgte eine Stahl- und Kupferdruckerei. Bereits in den 1840er-Jahren eröffneten sie eine fabrikmässig betriebene Buchbindereianstalt.
1844 führte man das Verfahren der Stereotypie ein, das hohe Auflagen bei reduzierten Produktionskosten ermöglichte.123 Das erste Buch, das in Einsiedeln stereotypiert und in dieser Technik gedruckt wurde, war die 31. Auflage des Gebetbuchbestsellers «Freuden des Christen in Gott und Religion» des Franziskanerpaters Aloys Adalbert Waibel (1787–1852). 1845 wurden die ersten dampfbetriebenen Schnellpressen installiert. Benziger kaufte die Pressen von der 1817 gegründeten Firma Koenig & Bauer, die ihre Fabrik im 1803 aufgehobenen Kloster Oberzell bei Würzburg betrieb.
Im Jahr 1847 hatte das Unternehmen bereits eine beträchtliche Ausdehnung erfahren. Ein Bilderkatalog warb in diesem Jahr: «Haben neben Bildern und Kunst auch folgende Geschäftszweige: Lithographie, Buchdruckerei, Stereotypie, Verlagsund Sortimentsbuchhandlung, Buchbinderei, Buchbindermaterialien- und Devotionalien (oder geistlicher Waaren) Handlung. Wir liefern gut und billigst: lithographische Arbeiten jeder Art […] beliebige Buchdruckerarbeiten, gebundene und ungebundene Andachtsbücher eigenen Verlags […] und Werke aus allen Wissenschaften […] Rosenkränze aller Gattungen […].»124 Als Josef Karl und Nikolaus das Geschäft im April 1860 an ihre Söhne übergaben, standen vier Schnellpressen für den Buchdruck (Hochdruck), einige Handpressen sowie mehrere Satinier-, Präge- und Vergolddampfpressen zur Verfügung. Daneben zwanzig Lithographiepressen und fünf Kupferdruckpressen für Stahlstich.125
Die folgende Generation investierte weiter in die technische Infrastruktur. Vor allem Adelrich B.-Koch (1833–1896), der Sohn von Nikolaus B.-Benziger I, bemühte sich um den Ausbau der technischen Betriebe. Unter seiner Leitung wurde 1863 die Zinkographie, der Druck ab Zinkplatten, eingeführt. 1866 folgte die Xylographie (Holzdruck), die vor allem in der Herstellung von Illustrationen in Zeitschriften Verwendung fand. Ab 1889 tauchten fotografische Reproduktionen als Illustrationen in den hauseigenen Zeitschriften auf.126
Ein Bücherkatalog aus dem Jahr 1894 zählt eine unübersichtliche Fülle an Reproduktionsverfahren auf, die der Benziger Verlag in Einsiedeln betrieb: Neben der Kupfer- und Stahlstecherei, einem xylographischen, lithographischen, chromographischen sowie photographischen Atelier betrieb man auch die Zinkographie, die Phototypie, Autophototypie, Chromotypographie, Photolithographie, den Lichtdruck, die Photogravure und Heliogravure.127
Für die Beteiligten bedeutete es einen enormen Aufwand, überall auf dem neuesten Stand zu bleiben. «Die Sache wird jährlich complizirter», schrieb Adelrich B.-Koch im Sommer 1870 in einem Brief, den er aus Lyon nach Hause schickte.128 Um mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten, besuchten Mitglieder der Verlagsleitung regelmässig die einschlägigen Industriemessen, wo die neuesten Entwicklungen im Bereich der Reproduktionstechnologien vorgestellt wurden. Adelrich B.-Koch amtierte an mehreren Industrieausstellungen im In- und Ausland, darunter an der Weltausstellung 1889 in Paris, auch als Juror.129
Die Firma Benziger habe «die groessten Buchdruckereien, Steindruckereien, Stahlstichdruckereien der Schweiz», schrieb Nikolaus B.-Benziger II (1830–1908) im Jahr 1904.130 Die Industrieanlagen von Benziger erreichten aber nie die Dimensionen der grossen deutschen Verlagsdruckereien wie Brockhaus in Leipzig oder Cotta in Stuttgart.131 Dennoch verfügte der Benziger Verlag in dieser Zeit über ein technisches Know-how und eine Infrastruktur, die international keinen Vergleich zu scheuen brauchte. So gelang es dem Unternehmen ab etwa der Jahrhundertmitte, sich für einige Jahrzehnte an der internationalen Spitze zu etablieren. Adelrich B.-Koch schrieb 1859 von einer Geschäftsreise an seinen Vater und seinen Onkel: «Es besteht in ganz Deutschland keine Buchbinderei, die wie unsere fabrikartig betrieben wird.» Vergleichbar effiziente Buchbindeanstalten fände man höchstens in England, Paris, New York und Philadelphia.132 Über die eigenen Stahlstichreproduktionen hiess es ein paar Jahre später in einem Brief, den die Verlagsleitung nach Amerika schickte: «In Stahlstichen besteht nichts so gediegenes wie unser Verlag. Das anerkennen […] sogar die eitlen selbstsüchtigen Franzosen.»133
Im Verlag wurde in dieser Zeit der Anspruch gepflegt, Innovationen im Bereich der Reproduktionstechnologien möglichst bald im eigenen Betrieb einzusetzen. Dank der Chromolithographie farbige Andachtsbilder zu produzieren, schien den damaligen Verlegern beispielsweise selbstverständlich. Nikolaus B.-Benziger II schrieb 1867 auf einer Geschäftsreise von München nach Einsiedeln: «Es ist wirklich an der Zeit ‹bald› mit chromo Heiligenbildern zu beginnen, wollen wir die ersten sein.»134 Zwei Jahre später reiste sein Bruder Adelrich B.-Koch nach Paris, um sich vor Ort ein Bild über die lithographischen Schnellpressen der Firma Voirin zu machen. Auch in London besichtigte er solche Pressen. Zunächst liess Benziger seine Farbendrucke noch in Paris bei der Firma Lorilleux herstellen.135 1871/72 investierte die Firma schliesslich die beträchtliche Summe von 42 000 Franken in vier lithographische Schnellpressen, die aus Paris importiert und in Einsiedeln montiert wurden.136 Die Firma Benziger war eines der sehr frühen kontinentaleuropäischen Verlagshäuser, das mit lithographischen Schnellpressen arbeitete, in der Schweiz gar das erste.137
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