Dieses Bild lässt sich unschwer auf das in den letzten Jahren heiß diskutierte Thema der Globalisierung übertragen. Die weltweiten Veränderungen seit Beginn der 1990er Jahre bieten Unternehmen neue Chancen, setzen sie jedoch auch neuen Risiken aus. Egal wie, eine Herausforderung ist die Globalisierung in jedem Fall. Und: niemand kann sich den daraus resultierenden Zwängen entziehen. Das Fenster steht offen.
Fakt ist, dass 2,5 Milliarden Menschen mehr oder weniger überraschend Zugang zu den globalen Märkten bekommen haben – als Nachfrager, aber eben auch als Anbieter von Produkten und Leistungen. Dieses Phänomen steht im Zentrum der weltweiten Veränderungen und gewinnt zunehmend an Dynamik. So können heute Länder, die bis vor wenigen Jahren noch echte Entwicklungsländer waren, zu niedrigen Kosten Produkte und Dienstleistungen anbieten, die bis dato Monopole der klassischen Industrienationen waren. Atemberaubend ist vor allem das Tempo dieser Entwicklung: in Indien oder China entstanden quasi „über Nacht“ Cluster für Industrie und Dienstleistung, die im weltweiten Vergleich eine mehr als respektable Rolle spielen.
Dies hat zur Folge, dass die Möglichkeit zur „Delokalisierung“ neue Dimensionen bekommen hat. Produzierende Unternehmen aus Westeuropa, Nordamerika oder Japan, der klassischen „Triade“, haben den Vorteil, Standorte mit niedrigen Produktionskosten nutzen zu können, ohne die früher damit verknüpften Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Heute bekommt man die Nutzung von Hochtechnologie, hohe Produktivität und gute Qualität auch zu vergleichsweise niedrigen Löhnen. Konsequenz ist ein tatsächlicher „Mega-Wettbewerb“: Unternehmen und Volkswirtschaften müssen nun nicht mehr nur gegen bekannte Konkurrenten antreten, sondern gegen eine ständig wachsende Zahl völlig neuer Wettbewerber. Diese Tatsachen verursachen einen permanenten Druck, die Produktion zu rationalisieren, die internen Kosten zu reduzieren und die Leistungsfähigkeit (Qualität, Lieferservice) insgesamt zu erhöhen.
Kein Unternehmen, kein Land ist gegen diesen Druck gefeit. Im Gegenteil: die Herausforderungen ähneln sich für alle Unternehmen mehr oder weniger stark.
Leitgedanken zur Globalisierung
In nahezu allen Branchen gilt, dass Wachstum nur noch über Internationalisierung und globale Aufstellung zu erreichen ist. Die heimischen Märkte für Industriegüter sind weitestgehend gesättigt. Bereits der Mittelstand ist deshalb gezwungen, sich in dem Sinne international zu betätigen, dass er an ausländischen Standorten präsent ist, sei es mit Vertriebsaktivitäten, sei es mit Fertigung und Montage.
Vor allem in der Automobil-Zulieferindustrie gehören Werke im europäischen Ausland heute zur Normalität. Produziert wird in einem internationalen Werkeverbund mit komplexen logistischen Strukturen. Damit ein solches verteiltes Gebilde überhaupt funktionieren kann, müssen die Unternehmensprozesse stabil und robust sein. Instabile Prozesse können einen ganzen Werkeverbund in Schieflage bringen, die Lieferfähigkeit gerät in Gefahr. Um dies zu verhindern, müssen die Wertschöpfungsprozesse systematisiert und standardisiert werden. Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, das an allen Standorten nach den gleichen Prinzipien, auf höchstem Niveau (nämlich exzellent), arbeitet. Die Einhaltung der Prinzipien (Standards) kann im globalen Netzwerk permanent überwacht, Abweichungen können schnell fest- und abgestellt werden. Ein solches Unternehmen verfügt über ein Wertschöpfungssystem, wie wir es Ihnen in diesem Buch vorstellen und näher bringen wollen.
Herausforderung Komplexität
Nicht nur die Welt wird immer komplexer, auch Produkte werden es. Noch vor zehn Jahren war ein Telefon in der Hauptsache eine Sprech- und Höreinrichtung an einem Kabel. Jeder Wehrpflichtige konnte nach wenigen Tagen Ausbildung ein funktionierendes Netz aufbauen, vorausgesetzt, er war stark genug, um die riesige Kabeltrommel zu schleppen. Ein Mobiltelefon der neuesten Generation ist nicht physisch schwer, aber schwer zu verstehen, komplex. Besonders fatal: die Diskussion, ob es sinnvoll oder notwendig ist, mit einem Telefon zu fotografieren, Texte zu verschicken oder im Internet zu surfen, wird nicht geführt. Funktionen, die technisch machbar sind, werden eingebaut. Mag es sich beim Mobiltelefon im Hinblick auf Entwicklung und Produktion noch um Trivialitäten handeln, wird die Angelegenheit beim Automobil wirklich komplex. So stellt der hohe Elektronikanteil die gesamte Wertschöpfungskette vor Komplexitätsprobleme. Wer früher ein mechanisches Türschloss nebst Schlüssel lieferte, ist heute verantwortlich für ein mechatronisches Schließsystem, das mehr Intelligenz besitzt als ein Personalcomputer in den 1980er Jahren.
Abb. 3: Modellvielfalt im Automobilbau (Quelle: McKinsey)
Es kann deshalb nicht verwundern, dass einige große Unternehmen wie DaimlerChrysler Stabs- und Forschungsabteilungen für Komplexitätsmanagement eingerichtet haben. Ob es diesen Stäben allerdings gelingen wird, die Komplexität wirksam einzudämmen, bleibt abzuwarten.
Die Kardinalfrage lautet: ist die explodierende Komplexität eine Kundenforderung oder ist sie hausgemacht? Beides trifft in Teilen zu. So verzeichnen wir im Automobilbau bekanntlich eine drastische Zunahme der Modell- und Produktvielfalt (vgl. Abb. 3).
Die Automobilhersteller sind bestrebt, Marktnischen so gut wie möglich zu besetzen und sich durch schnelle Modellwechsel und „Facelifts“ an die schnell wechselnden Moden anzupassen – oder die Trends eben selbst zu setzen. Der Kunde nimmt die Modellvielfalt gerne an. Hier die steigende Komplexität richtig zu managen, wird künftig eine wesentliche Herausforderung und ein Erfolgsfaktor sein.
Stichwort Varianz
Die Varianz ist ein wesentlicher Treiber von Komplexität. Nicht immer hat hohe Varianz ihre Ursachen in den differenzierten Wünschen der Kunden. Auch die hohe Innovationsrate ist ein Variantentreiber, weil neue „Features“ häufig Eingang in Produktkataloge finden, ohne dass die alten Varianten konsequent getilgt worden wären. Der Vertrieb argumentiert dann meist mit der Bindung von Stammkunden, die vor allem veraltete „Exoten“ nachfragen. Und selbst das angesprochene Tilgen im aktuellen Lieferverzeichnis wäre nur ein Teilerfolg, weil das After-Sales- und Ersatzteilgeschäft förmlich dazu zwingt, auch längst hinfällige Varianten herstellen zu können.
Leitgedanken zur Komplexität
Komplexität ist nicht gleichzusetzen mit Intelligenz. Für das Entstehen von Komplexität ist keine besondere Intelligenz notwendig – aber für das Beherrschen bzw. Reduzieren von Komplexität. Die Steigerung von intelligent ist … einfach (worauf wir noch eingehender zu sprechen kommen). Oder, wie die Amerikaner nicht ohne Berechtigung sagen: „KISS – Keep it stupid simple“. Das heißt aus Sicht des Managements nicht, die Augen vor der bisweilen unvermeidlichen Komplexität zu verschließen. Vielmehr sollte vermieden werden, die Komplexität vollständig in Systemen abzubilden, sondern zu segmentieren und in überschaubare Einheiten zu zerlegen und diese durch robuste und stabile Prozesse beherrschbar zu machen.
Der Wandel der unternehmerischen Erfolgsfaktoren
„Verfügbarkeit“ heißt eines der Zauberworte der modernen Gesellschaft. Wir gehen davon aus, dass Dinge, die wir kaufen wollen, in den Geschäften oder zumindest im Internet verfügbar sind. Und das gilt nicht nur für Konsumgüter: auch die Industrie setzt bei der Beschaffung kurze Lieferzeiten und besten Lieferservice voraus.
Stichwort Lieferzeiten
„They never stand in line – sie wollen sich nicht anstellen“. Was früher die Karikatur der Briten für kontinentale Drängler war, ist heute die zutreffende Beschreibung nahezu aller Kunden. Überspitzt ausgedrückt: Produkte mit langer Lieferzeit sind bei ihrer Auslieferung möglicherweise bereits von der nächsten Generation abgelöst (siehe oben). Was am „Point of Sale“ gilt, wo der Kunde, statt zu warten, eben das kurzfristig lieferbare Konkurrenzprodukt kauft, gilt in der Lieferkette in noch stärkerem Maße. Die in vielen Branchen mittlerweile zum Standard gewordene Just-in-Time-Philosophie beschleunigt die Lieferprozesse zwischen den Produktionsstufen ungemein. Derzeit läuft ein europäisches Forschungsprojekt zum sogenannten „Fünf-Tage-Auto“. Man kann sich vorstellen, was bei Verwirklichung dieser Vision bei den Zulieferern los sein wird – zumal Sicherheitsbestände nicht erlaubt sind. Es geht künftig nicht mehr um Material, sondern