Wolfgang Welsch, der die Postmoderne-Diskussion in Deutschland maßgeblich bestimmt hat, sieht in der Gleichsetzung von Postmoderne und Beliebigkeit ebenfalls eine unzulässige Verkürzung. Er setzt dagegen die Pluralität als Signatur der Postmoderne: „Pluralität ist der Schlüsselbegriff der Postmoderne. Sämtliche als postmodern bekannt gewordene Topoi – Ende der Metaerzählungen, Dispersion des Subjekts, Dezentrierung des Sinns, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Unsynthesierbarkeit der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster – werden im Licht der Pluralität verständlich.“ [Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne, Berlin 62002, XVII.]
Die in vielen Feuilletons vorgenommene Gleichsetzung von Postmoderne mit Beliebigkeit ist für Welsch einer der entscheidenden Gründe, weshalb die Bezeichnung „postmodern“ von fast allen Philosophen vermieden wurde. Postmoderne, d. h. radikal-heterogene Pluralität lebt dagegen von der Wertschätzung der Differenz. Um diese Pluralität erfahrbar zu machen, braucht es Kriterien, anhand derer Unterschiede festgemacht und bewertet werden können. Der fundamentale Unterschied zwischen Pluralität und Uniformierung liegt jedoch darin, dass uniformes Denken Abweichungen per definitionem verurteilt, indem es andere Modelle nach dem bewertet, worin sie sich von dem Eigenen, universal Gültigen abheben. Plurales Denken hingegen muss andere Modelle ebenso bewerten, braucht sie jedoch nicht zwingend von vorneherein als ausschließlich defizitär zu definieren. Es kann ihnen in einem transversal geführten theologischen Diskurs sogar fremdprophetische Anteile abgewinnen – wie sich im Weiteren zeigen wird. [Vgl. zu dieser Postmoderne-Option den fundierten Aufsatz von: Becker, P. / Diewald, U., Relativismus, Postmoderne und Wahrheitsanspruch, in: StZ 134 (2009), 673-684.]
Ergänzend hierzu ist anzumerken: Pluralität lebt insgesamt ebenfalls von Verbindlichkeiten, welche allerdings völlig anderen Regeln folgen als einschlägig (beispielsweise kirchlich) gewohnt. Verbindlichkeiten sind postmodern vielmehr radikal pluralisiert sowie transformiert und nicht aufgelöst: Eine ungeordnete bzw. unvereinbare Pluralisierung und lebenspraktische Fragmentierung wäre letztlich existenzbedrohlich. Fragmentierungen müssen hingegen durch das Individuum selber gestaltet, verantwortet, ausgehalten und überbrückt werden. Diese transformierte Weise dessen, wie etwas postmodern dann verbindlich ist, wird beispielhaft unten an der postmodernen Volkskirchlichkeit deutlich werden (vgl. besonders I 4), genauso wie an der Figur des Städters (vgl. III 3.2.1.2).
12 Denn es ist mit Stefan Gärtner für die gegenwärtige Pastoral davon auszugehen, dass „[…] das geistesgeschichtliche Problembewusstsein, das mit dem Begriff Postmoderne angezeigt ist, sich auch auf sozialem Niveau ausmünzt. Bewusstseinsprozesse korrelieren also mit sozialer Praxis und umgekehrt.“ [Gärtner, S., ‚Postmoderne‘ Pastoral? Exemplarische Reflexionen zu einem Kasus, in: LS 60 (2009), 151-155, 152.]
13 Vgl. Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne.
14 Ebd., 66.
15 Unter anderem daher schlägt in der jüngeren praktisch-theologischen Diskussion Stefan Gärtner vor, den Postmoderne-Begriff für die philosophische Diskussion zu reservieren, für den sozialwissenschaftlichen Diskurs hingegen eher den Begriff der „Spätmoderne“ vorzuziehen. Vgl. Gärtner, S., Fremdheit und Differenz in der postmodernen Theologie. Die Replik von Stefan Gärtner auf Jürgen Bründl, in: LS 60 (2009), 158-159, 158. Vgl. ausführlicher zu dieser Präferenz die Habilitationsschrift Gärtners: Ders., Zeit, Macht und Sprache, Pastoraltheologische Studien zu Grunddimensionen der Seelsorge, Freiburg/Brsg. 2009. Diese Diskussion ist hier nicht aufzunehmen geschweige denn hinreichend fortzuführen. Generell lässt sich jedoch anzweifeln, dass das Präfix „spät“ rein sprachlich eine neutrale bzw. positive Konnotation haben kann.
16 So Edmund Husserl, zitiert bei Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne, 71.
17 Vgl. ebd., 72.
18 Vgl. ebd., 75.
19 Vgl. ebd., 78.
20 Vgl. ebd., 79.
21 Vgl. Lyotard, J.-F., Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz 1986.
Daher kann wissenschaftstheoretisch der Übergang zur Postmoderne als Paradigmenwechsel eigener Art beschrieben werden. Vgl. hierzu: Widl, M., Pastorale Weltentheologie. Transversal entwickelt im Diskurs mit der Sozialpastoral, Stuttgart 2000, 84-103.
22 Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 82.
23 Ebd., 83.
24 Ebd., 84.
25 Vgl. Welsch, W., Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main 1996, 559. Vgl. zu diesem Unterabschnitt insgesamt ebd., 541-610.
26 Vgl. Kuhn, T., Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigmas, in: Ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1977, 389-420.
27 Vgl. Welsch, Vernunft, 545.
28 Ebd., 546.
29 Ebd., 547f.
30 Vgl. ebd., 555.
31 Vgl. ebd., 553.
32 Soziologisch übersetzt findet sich der Paradigmenbegriff und der Paradigmenpluralismus durch Maria Widl für praktisch-theologische Zusammenhänge: „Verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln ihre ganz eigene Logik, die von außen meist unverständlich bleibt: die Jugend, die Wirtschaft, die Religion, die Wissenschaften, die Politik. Diese verschiedenen Logiken sind als Paradigmen ausgebildet, also als in sich geschlossene, sich selbst vollständig genügende Verstehens- und Lebenswelten.“ [Widl, M., Transversalität. Eine inhaltliche Brücke zwischen Christentum und säkularer Welt gestalten, in: Dies., u. a., Folge dem Stern! Missionarische Projekte am Weihnachtsmarkt, Würzburg 2009, 40-53, 43f.]
33 Vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 306.
34 Ebd.
35 Widl, Pastorale Weltentheologie, 126. Vgl. dazu umfassend: Welsch, Vernunft, 613-949.
36 Vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 307.
37 Ebd., 308f.
38 Ebd., 310.
39 Ebd., 315.
40 Vgl. Widl, Pastorale Weltentheologie, 127. Vgl. auch Englert, R., Religiöse Erwachsenenbildung. Situation – Probleme – Handlungsorientierung, Stuttgart 1992.
41 Widl, Pastorale Weltentheologie, 154f.
Vgl. auch die Herleitung und Verbindung der transversalen Vernunft mit klassischen theologischen Methoden, in: Dies., Transversalität, 47-53. Hier wird Transversalität praktisch-theologisch in den fünf Schritten von Apologetik, Korrelation, Fremdprophetie, Prophetie und Katholizität rezipiert.
42 Am Rande bemerkt: In der bereits angeführten Replik Stefan Gärtners auf Jürgen Bründl in LS 60 (2009) empfiehlt Gärtner die Transversalität auch als Methodik für den innertheologischen Dialog: „Ein Sprachspiel lässt sich in der Postmoderne nicht mehr ohne weiteres in ein anderes überführen. Es entpuppt sich permanent als partikulär und kontingent. Es käme darauf an, mit transversal geschultem Verstand (Welsch) die Grenzen des eigenen Diskurses aufzusuchen und nach