Der Anspruch auf Universalität folgt nun logisch aus dem Pathos des radikalen Neuanfangs. Denn wenn nichts Altes mehr fortzuführen ist, muss konsequent alles von Neuem beginnen. So wird die mathesis universalis fortan zur universalen Grundlage des Wissenschaftskanons, welche gleichzeitig die alten fachlichen Besonderheiten anderer Wissensgebiete einebnet. Für den Fortgang dieses Prozesses lässt sich insgesamt zeigen, dass die Neuzeit ebenso, wie sie radikal neu ansetzt, auch „unerbittlich vereinheitlichend, universalisierend, totalisierend“ geprägt ist.17
Die neuzeitliche Moderne versteht Welsch in all jenen Bewegungen verwirklicht, welche in unterschiedlichen Konzeptionen als Infragestellungen dieses Konzeptes für eine Selbststeigerung des neuzeitlichen Modells stehen. Damit erweisen sich nach Welsch solche Oppositionsbewegungen allesamt selber als neuzeitlich. Denn sie reproduzieren nichts weniger als „die neuzeit-typischen Charakteristika des Neuanfangs, der Radikalität, der Ausschließlichkeit und Universalität.“18 Daher ist auch der neue, oppositionelle Weg stets der einzige und ausschließliche: Pluralität und Partikularität sind selbstredend solchen Bewegungen zutiefst fremd.
Ebendiese Werte der Pluralität und Partikularität werden jedoch innerhalb der Moderne des 20. Jahrhunderts denkbar und sogar verbindlich. Wissenschaftstheoretisch wird der Abschied von holistischen Konzepten praktiziert: es gibt keinen Zugriff mehr auf ein Ganzes und alle Erkenntnis erweist sich damit als begrenzt. Wirklichkeit folgt nicht mehr einem Modell, sondern vielen; sie ist daher konflikthaft geladen und zeigt ihre Einheitlichkeit lediglich noch in spezifischen Dimensionen. Dies führt zu einer „Mutation im Kern der Neuzeit“:19 Pluralität, Diskontinuität und Partikularität, vorher undenkbare Elemente des wissenschaftlichen Diskurses, halten nun Einzug in das wissenschaftlich-mentale Bewusstsein des 20.
Jahrhunderts. So wird Partikularität durch Pluralität abgelöst, und zeitgleich werden Monopolismus und Universalität aus der wissenschaftlichen Debatte als unbrauchbare Instrumente verabschiedet. Es kommt zu einem Bewusstsein einer Wissenschaft, die mithilfe verschiedener Schulen, Modelle und Methoden operiert. Hier schon scheint eine Konkurrenz der Paradigmen auf, welche jedoch noch keinen Ausschluss genereller, allgemein gültiger Theorien bedeutet. Diese haben es jetzt nur schwerer als früher, widersprechen der grundsätzlichen Pluralität jedoch nicht. Diese Vorgänge finden sich nun beispielsweise zeitgleich in der Kunst aufgegriffen, welche in Gestalt eines Stilpluralismus zur Kollage mehrerer heterogener Paradigmen innerhalb eines Kunstwerks fähig wird.
Die Philosophie hat diese Pluralismusfähigkeit der Moderne erst relativ spät wahrgenommen. Die postmoderne Philosophie versteht sich daher als die „entschiedene Praxis und theoretische Reflexion des Pluralismus, der die Grundverfassung unserer Moderne […] ausmacht.“20
Diese Postmoderne lässt sich nun im Anschluss daran mit Lyotard anschaulich erklären. Die Grundthese seines Werkes „Das Postmoderne Wissen“ ist als die Verabschiedung der Meta-Erzählungen zu beschreiben.21 Die großen Geschichtsphilosophien vom Leben des Geistes nach Hegel (also dezidiert neuzeitliche Konzepte) oder von der Emanzipation des Menschen nach Marx sind an ihr Ende gekommen. Ebenso die Erzählung der Neuzeit von einer mathesis universalis. Die neue Wissenschaft steht vor der Heterogenität einer Welt, deren Diskurse als schier unvereinbare Sprachspiele in ihrer Autonomie und Irreduzibilität anerkannt und befördert werden müssen. Der Postmodernismus verteidigt diese Heterogenität der Lebens-, Sinn- und Alltagswelten und tritt damit aller Totalisierung philosophischer, ökonomischer und technologischer Art entgegen. Die postmoderne Philosophie versteht sich als eine konsequente Philosophie der Pluralität.
Welsch resümiert:
„Postmoderne besagt gerade nicht Novismus, sondern Pluralismus. Und dieser Pluralismus hat gewiß seine antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorformen. Neu ist nur erstens, daß er jetzt dominant und obligat wird – und das unterscheidet die Postmoderne noch von der Moderne des 20. Jahrhunderts, wo der Pluralismus erst sektoriell verbindlich geworden war, während er es jetzt in der ganzen Breite der Kultur und des Lebens wird. Und neu ist zweitens, daß die postmoderne Pluralität radikaler ist als jede vorherige, so radikal nämlich, daß sie nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen und überboten werden kann, sondern jetzt konsequenterweise zur Grundverfassung werden muß.“22
Universell gültig ist postmodern folglich die Pluralität, die ihr sektorielles Dasein aufgegeben hat und zum nunmehr prägenden Strukturmerkmal postmodernen Denkens geworden ist. In der Folge finden sich Motive, die zuvor längst unter anderen vorhanden waren, in der Postmoderne hingegen deutlich radikalisiert auftreten und auf diese Weise zu allgemein bestimmender Wirkung gelangen. Somit ist der Postmoderne ein völlig anderes Geschichts- bzw. Traditionsbewusstsein immanent, als es die vorangegangenen Moderne-Konzeptionen kannten:
„Sie [die Postmoderne] lebt nicht neuzeitlich-modernistisch-progressistisch, sondern sieht der gegenwärtigen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ins Auge und prüft und begrüßt Vorgängerschaft ohne Geschichtsscheu.“23
Damit ist also ein entscheidender Unterschied zwischen den vorherigen Moderne-Formen und der Postmoderne benannt: Sie entledigt sich dezidiert der Verbindung von Ausschließlichkeit und Überholung. Pluralität und Differenz werden zur Grundlage heterogener, also in sich völlig abgeschlossener Denksysteme, welche unten präziser als Paradigmen beschrieben werden.
Somit wird insgesamt verstehbar, dass sich die Postmoderne nicht als die Nachmoderne der Moderne des 20. Jahrhunderts versteht, sondern diese vielmehr in ihren bereits pluralen Ansätzen vertiefend radikalisiert. Post-modern ist sie jedoch sehr wohl bezüglich der beschriebenen Neuzeit. Nur in radikaler Absetzung von ihr und ihren Nachfolgeformen ist die Postmoderne zu definieren:
„Die Postmoderne ist eine Moderne, die nicht mehr den Auflagen der Neuzeit folgt, sondern die des 20. Jahrhunderts einlöst.“24
Diese Radikalisierungen der modernen Pluralitätsformen des 20. Jahrhunderts sollen den Postmoderne-Begriff charakterisieren, wie er dieser Studie zugrunde liegt. Konkret wird er durch die Vielzahl diverser Paradigmen. Diese charaktergebende Eigenschaft soll im Folgenden genauerhin erläutert und plastisch werden.
2.2 Postmodern kennzeichnend: Ein Pluralismus von Paradigmen
Welsch erfasst innerhalb zwei Phasen der Entwicklung, die jenen der Moderne des 20. Jahrhunderts zur Postmoderne hin durchaus parallel sind: In einem ersten Schritt kommt es zur Ausdifferenzierung in verschiedene Rationalitätstypen. Hieran schließt sich postmodern eine weitere Scheidung in plurale Paradigmen an. Diesen Vorgang nennt Welsch Paradigmenpluralisierung und zeigt, dass die vorherigen, verschiedenen (noch ansatzweise harmonisierbaren) Rationalitätstypen nicht mehr existieren, „sondern daß das einzige, was es hier wirklich gibt, die Paradigmen sind.“25 Sie übernehmen die Funktion der Rationalitätstypen, indem sie nun einen ausschließlichen Gegenstandsbereich wie auch die Konstitutions- und Verbindungsregeln der Gegenstände zu definieren vermögen.
Ein Paradigma definiert Welsch mit Thomas Kuhn und zugleich in Abgrenzung von ihm.26 Zum einen stimmt Welsch Kuhn zu, wenn dieser Paradigmen als ganze Konstellationen von Meinungen, Methoden und Werten im Sinne einer „diszipilinären Matrix“ beschreibt, andererseits modifiziert er Kuhns Paradigmenbegriff weiter.27 Insbesondere unterstreicht Welsch dabei die Gleichzeitigkeit und damit das Nebeneinander von Paradigmen innerhalb derselben Disziplin. In solcher Simultaneität sieht er – neben weiteren Aspekten – das ausschlagebende Charakteristikum des Paradigmas benannt:
„Innerhalb dessen, was man Wissenschaft oder Kunst oder Philosophie nennt, existieren jeweils verschiedene Gruppen, die durch den Gebrauch unterschiedlicher Paradigmen definiert sind.“28
Die