Das andere Volk Gottes. Jan Loffeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Loffeld
Издательство: Bookwire
Серия: Erfurter Theologische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429060121
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Menschen innertheologisch bzw. pastoral eine Stimme gegeben wird, die sie sonst nicht haben (ganz auf der Linie von GS 1). Dabei ist vorausgesetzt, dass ohne eine wirklich innere und vorurteilsfreie Wahrnehmung dieser Form von Kirchlichkeit eine wirksame Evangelisierung bzw. Inkulturation des Evangeliums nicht gelingen kann (vgl. dazu die näheren Überlegungen zur Transversalität unter 0 2.3). Pluralität wird im Kontext des Frageinteresses dieser Studie daher nicht zur Bedrohung des Eigenen, sondern zur Herausforderung, eben dieses Eigene in den Diskurs einzubringen – gerade auf die Möglichkeit hin, daraus verändert hervor zu gehen.

      Daher geht es dieser Studie und ihrem Forschungsinteresse weder um Abwertung, noch um kritiklose Würdigung oder gar Anpassung, sondern um ein inneres Verstehen und Lernen vom bzw. am Anderen. Denn:

      „Die Katholische Kirche kommt nicht durch Anpassung an die Postmoderne weiter. Sie muss die Postmoderne verstehen, dann aber die spirituelle Kraft wachsen lassen, die Menschen zu einer tieferen Innerlichkeit, zu ihrem persönlichen Berufungsauftrag […] führen und ihnen Stand gegenüber den ständigen Wechseln der Trends und Moden ermöglicht [sic]“.7

      Hatte man in der Epoche nach Ende des II. Vatikanums mit dem einheitlichen Konzept der Gemeindekirche auf sich anfänglich differenzierende, jedoch noch weitgehend homogene soziokulturelle Gegebenheiten zu reagieren versucht, so ist nun in der Postmoderne der (pastoral-)theologische Blick auch auf andere Weisen des Kircheseins im Volke Gottes zu richten, welche aus dem Raster der Gemeindekirche zunehmend herausfallen: beispielsweise die geistlichen Gemeinschaften, die Nur-Kirchgänger, soziale Netzwerke bzw. Communities im Internet oder eben auf die postmoderne Volkskirche. Im Rahmen dieser Studie soll die Reflexion der letztgenannten Kirchlichkeitsform geschehen.

      Wesentlich wird – wie im obigen Zitat bereits angeklungen – in all diesen Fragezusammenhängen immer die Frage nach der Urgestalt des Christen zu stellen sein: Wofür ist er da, welche ist seine Berufung?8 Zugespitzt gefragt: Sollte ein Christ vornehmlich die Gemeinde kultivieren oder seine Sendung in dieser Welt und Zeit finden und leben, die dann ihrerseits auch eine ortsgemeindliche Existenz bedeuten kann – jedoch nicht zwingend muss? Solche Fragen werden, so lässt sich zeigen, im Rahmen postmoderner Reflexionen zunehmend kompatibel – und Antwortwege darauf ein spezifisches Desiderat der Gegenwart. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung lassen sich zudem Grundlinien einer Praktischen Theologie des Volkes Gottes für unsere Zeit entwickeln.

      Der systematische Theologe Hans-Joachim Höhn bringt dabei die Intention wie den Ansatzpunkt dieser Studie prägnant auf den Punkt:

      „Die Vitalität des Christentums in einer „multireligiösen Kultur“ hängt ohnehin daran, dass Christen in der Lage sind, vergessene oder unentdeckte Wahrheiten ihres Glaubens auch außerhalb ihrer eigenen Reihen zu erkennen und umgekehrt der Welterfahrung der „Anderen“ mit dem Evangelium größere Tiefenschärfe geben zu können. Der Stoff für diese wechselseitige Übersetzungsarbeit wird vom sozialen oder politischen Alltag geliefert. Die Identität und Relevanz der Wahrnehmung einer spezifisch christlichen Zeitgenossenschaft hängt davon ab, daß sie tatsächlich einen nichttrivialen Beitrag zur Enttrivialisierung des Lebens leistet. Es geht nicht darum, […] Religion zur schnell konsumierbaren Ware zu machen […], sondern mit jenen, die sich darauf einlassen wollen, auf elementare Weise das zu erspüren, was Menschen am Leben hält.“9

      Höhn beschreibt hier – ohne es explizit so zu nennen – Grunddaten eines transversalen Diskurses, wie er dieser Arbeit inhaltlich und methodisch zugrundeliegt. Dieser Ansatz findet sich im weiteren Verlauf dieser Einleitung genauerhin hergeleitet. Zuvor soll allerdings die Fragestellung der vorliegenden Studie – bereits transversal, also aus zweifacher Perspektive – vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wie folgt formuliert sein:

       Hat der Großteil des Volkes Gottes, welcher sich nicht kontinuierlich in gemeindekirchliche Vollzüge einbindet, eine generelle Botschaft für gegenwärtige pastorale Neuorientierungen? Genauso umgekehrt: Welche theoretischen wie praktischen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine gegenwartsorientierte Pastoral diesen Menschen etwas zu sagen bzw. evangelisierend anzubieten hat?

      Denn – so ist dem Pastoraltheologen Rainer Bucher auf ganzer Linie zuzustimmen:

      „Die Kirche braucht alle, die zu ihr gehören. Sie muss sie hören und respektieren. Sie muss ihnen Raum geben und Aufmerksamkeit. Sie braucht sie um ihres Lebens willen, das sie verkörpern, um ihres Glaubens willen, für den sie stehen, und um ihrer Liebe willen, zu der sie fähig sind. Die Kirche braucht sie, um zu entdecken, wo sie ist und was ihre Aufgabe als Kirche hier und heute ist. Sie braucht sie, um zu werden, was sie sein soll: Gottes Volk.“10

      Zu diesen Entdeckungen und notwendigen Prozessen möchte diese Studie einen Beitrag leisten. Sie tritt dazu mit jenen ChristInnen in einen Diskurs, die im kirchlichen Leben nur selten zu Wort kommen – weil sie innerhalb des Gottesvolkes gemeindefremd leben und daher „das andere Volk Gottes“ bilden.

      2. Definitionen und methodische Vorüberlegung

       2.1 Die Postmoderne innerhalb der Moderne

      Der Begriff der Postmoderne wird in verschiedenen Kontexten aufgegriffen und findet sich dort eher unspezifisch gebraucht. Konnotiert ist er zumeist mit den Stichworten Unübersichtlichkeit, Beliebigkeit oder mit dem vielzitierten „anything goes“.11

      Um derartige Begriffsdiffusionen zu vermeiden, soll daher von vorneherein klar beschrieben werden, in welchem Sinn der Begriff der Postmoderne im Rahmen dieser Studie Verwendung findet. Dabei ist es weder möglich noch nötig, seine philosophische Diskussion umfassend zu referieren bzw. weiterzuführen, noch das praktische, vielseitige Bedeutungsspektrum dieses Begriffes zu diskutieren. Ebenfalls muss eine theologische Aufarbeitung andernorts geleistet werden. Praktisch-theologisch relevant werden philosophische Begriffe wie die Postmoderne allerdings, wenn sie eine gesellschaftliche Realität beschreiben bzw. zu erklären helfen.12

      Der deutsche Postmoderne-Theoretiker Wolfgang Welsch bietet im Anschluss an den französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard, der bereits 1979 den Begriff der Postmoderne in die Diskussion einführte, eine passende Einordnung.13 Dieser soll hier gefolgt werden.

      Welsch definiert zunächst das Zueinander der verschiedenen Begriffe:

      „[…] [D]ie Postmoderne setzt sich zwar entschieden von der Neuzeit, sehr viel weniger hingegen von der eigentlichen Moderne ab. Nach-neuzeitlich ist sie gewiß, nach-modern aber kaum, sondern eher radikal-modern. […] Es gilt, zwischen neuzeitlicher Moderne und radikaler Moderne zu unterscheiden. Die erstere setzt die Neuzeit fort, an die letztere knüpft die Postmoderne an.“14

      Die Postmoderne ist also anders, als es der Begriff suggeriert, nicht eine Nachmoderne, sondern versteht sich als ausdrücklicher Teil der Moderne.15 Auch wenn dies in deutlicher Radikalisierung des Moderne-Ansatzes erfolgt.

      Welsch macht im Folgenden anschaulich, in welchem Verhältnis die von ihm aufgegriffenen Begrifflichkeiten zueinander stehen. Dabei wird deren reflexe Wirkung auf gesellschaftliche Prozesse greifbar. Er beschreibt vier Konkretionsweisen der Moderne: Die Neuzeit, die neuzeitliche Moderne, die Moderne des 20. Jahrhunderts und die Postmoderne. Um seine Konzeption der postmodernen Moderne genauerhin zu verstehen, seien diese vier Formen in Gestalt kurzer Skizzen referiert.

      Die Neuzeit beschreibt Welsch weniger mithilfe begriffsgeschichtlicher Einschnitte, als mit philosophischen Konzeptionen. Für ihn setzt die Neuzeit philosophisch dort ein, wo eine dezidierte Zäsur zu allem Vorausgegangenen gesehen und fortgeschrieben wird. Dies ist für Hegel evident mit Descartes gegeben: Für Hegel beginnt mit Descartes das Prinzip der Selbstgewissheit, ein Prinzip des von sich ausgehenden Denkens und damit eine Linie, die zielgerichtet zum hegelschen Idealismus führt. Aus heutiger Sicht beginnt zudem mit Descartes die exakte Wissenschaft, die mathesis universalis und damit die wissenschaftlich-technische Zivilisation. Insbesondere sind es jedoch zwei formale Charaktereigenschaften, die das neuzeitliche Denken identifizierbar machen: Einmal der Pathos des radikalen