• Ein mit Blick auf den gemeinsam bezeugten dreieinigen Gott so geführter Widerstreit über die je eigene Perspektive von Glaube, Hoffnung und Liebe ist kirchenkonstitutiv.“41
Konkret für die innere Logik unserer Studie bedeuten diese philosophischen und praktisch-theologischen Kriterien: Die Verschränkung der Paradigmen (welche sich in Teil I und Teil II 1 gemäß ihren Wertmaßstäben dargestellt finden) ergibt sich, indem in der Rückführung auf eine bereits angelegte gemeinsame Grundlegung beider Paradigmen (hier konkret die Zugehörigkeit zum Volk Gottes) in der konstruktiv-kriteriologischen Erweiterung dieses Gemeinsamen die Stärken wie die Schwächen beider Paradigmen anschaulich werden (Teil II 2+3). Die gemeinsame Grundlegung wird in ihrer nunmehr erweiterten kriteriologischen Substanz (hier die Volk Gottes-Berufung gemäß dem II. Vatikanum) sodann zum Ausgangspunkt für praktisch-kirchenkonstitutive Überlegungen (Teil III), welche nicht in der Rückführung auf die Gültigkeit nur eines Paradigmas bestehen dürfen. Letztere kirchenkonstitutive Überlegungen erweisen sich ihrerseits wiederum transversal, da sie den ebenfalls zuvor transversal ermittelten Berufungsbegriff des II. Vatikanums als neues Paradigma mit dem Paradigma der Lebenswelten und Suchbewegungen heutiger Menschen zu verschränken suchen.
Die Transversalität in ihrer philosophischen Grundlegung wie praktischtheologischen Rezeption eignet sich somit für die Bearbeitung der aufgeworfenen Fragestellung in nahezu idealer Weise.42 Innerhalb der sich unten anschließenden methodischen Grundlegung unserer Studie ergibt sich diese Konzeption gleichsam als erkenntnisleitender Navigator. Denn Gemeinde- und postmoderne Volkskirche erweisen sich zum einen in der Praxis und mehr noch in deren empirischer bzw. theoretischer Wahrnehmung als heterogen-verschiedene Paradigmen, welche nicht ohne weiteres harmonisiert werden können. Es ist zudem praktisch die Unmöglichkeit evident, das eine Paradigma des Christseins zum Maßstab des anderen zu machen, ohne dass man ein hohes Maß von Frustration und Konflikten dafür in Kauf nehmen müsste. Daher zeigt sich das postmoderne Konzept der transversalen Vernunft als hilfreich, über eine Verschränkung der Paradigmen (nochmals: nicht über eine konflikthafte Einebnung oder Harmonisierung) zu praktikablen Zugängen zu gelangen, welche aus der hinter beiden Paradigmen stehenden Rationalität ableitbar sind.
Der nun herzuleitende praktisch-theologische methodische Dreischritt entspricht dabei einem transversal angelegten Erkenntnisinteresse in optimaler Weise.
3. Zur methodischen Konzeption dieser Studie:
Der Dreischritt von Kairologie – Kriteriologie – Praxeologie
Mit dem methodischen Modell von Kairologie, Kriteriologie und Praxeologie ist der Weg des induktiven Vorgehens praktischer Theologie beschrieben, welcher die Wirklichkeit anschaut, sie im Horizont theologischer Kriterien reflektiert, um schließlich zu einer Optimierung kirchlich-pastoraler Praxis zu gelangen. Diese Praxis soll demzufolge den „Zeichen der Zeit“ (GS 4) wie den entwickelten theologischen Kriterien mehr entsprechen können. Sie markiert den Zielpunkt eines dergestalt angelegten wissenschaftlichen Vorgehens. Ausgangspunkt bildet somit eine Praxis bzw. ein Ist-Stand kirchlich-sozialen Lebens, der um seiner Optimierung willen vertieft theologisch reflektiert wird. Paul Michael Zulehner begründet dieses Vorgehen in seiner Fundamentalpastoral wie folgt:
„Thema unserer Praktischen Theologie ist […] nicht eine zeitlose „Ekklesiologie“, eine Lehre von der Kirche, wie sie ist oder sein soll, sondern situative, kontextuelle Lehre von der „Ekklesiogenese“, der „Kirchengeburt“, wobei diese Geburt identisch ist mit ihrer „Praxis“, ihrem Handeln.“43
Herbert Haslinger erfasst die Methode dazu in Beschreibung der unterschiedlichen Grundlegung der drei Schritte von Kairologie, Kriteriologie und Praxeologie:
„Im Hinblick auf die jeweils zu reflektierende bzw. zu konzipierende Praxis
- wird zunächst die Situation mit ihren Gegebenheiten und systemischen Zusammenhängen in Gesellschaft und Kirche kritisch, d.h. mit dem Interesse an der Aufdeckung und Veränderung von Fehlentwicklungen, wahrgenommen und radikal, d.h. möglichst bis auf den Grund der Ursachen und Wirkzusammenhänge gehend, analysiert;
- folgt in einem zweiten Schritt die argumentative Zugrundelegung der im christlichen Glauben, näherhin in Schrift und Tradition enthaltenen Kriterien, um Situation und Praxis nach dem Maßstab des Evangeliums zu beurteilen.
- gelangt man schließlich von dieser Orientierung aus über die Formulierung von Zielen, die Planung von Handlungsschritten und die Verständigung der Beteiligten über ihre Rollen zu einer neuen, den situativen Erfordernissen und Möglichkeiten wie auch den theologischen Kriterien entsprechenden Praxis bzw. zur Konzeption einer solchen Praxis.“44
Zulehner gibt desweiteren Kriterien an, nach welchen diese Methode sinnvollerweise operiert.45 Er erläutert die ersten beiden Schritte als zweifache Reflexion: Die Kairologie erforscht mit den Mitteln der Sozialwissenschaftler bzw. Anthropologen, Philosophen oder Psychologen die „Zeichen der Zeit“. Damit ist die Kairologie eine „Lehre von den Situationen“.46 Notwendig kommt jedoch ein zweiter Schritt hinzu, den Zulehner als „Lehre von den Zielen“ definiert.47 Er ist die Kriteriologie. Sie macht die wahrgenommenen Situationen im eigentlich theologischen Sinne erst zum Kairos. Mit ihr wird die kairologisch wahrgenommene Zeitsituation zum „Erfahrungsort Gottes in der Geschichte“, welcher freilich notwendig den ersten kairologischen Schritt voraussetzt, denn:48
„Wer erfahren will, was Gott von seiner heutigen Kirche an Praxis erwartet, muß die „Zeichen der Zeit“ lesen und fragen, was Gott seiner Kirche durch diese Zeichen der Zeit an Handlungsmöglichkeiten und damit Handlungsaufforderungen eröffnet.“49
Die Kriteriologie ist demnach eine Weise des Auslotens theologischer Denk- und Handlungsmöglichkeiten angesichts einer sozial und anthropolgisch feststellbaren Realität der Gegenwart. Sie führt in den dritten Schritt der Praxeologie, indem sie auf dem Hintergrund von Kairologie und Kriteriologie Handlungsoptionen formuliert.
Praxeologisch kann es jedoch je nach Ergebnis des kriteriologischen Fragens zwei verschiedene Weisen von Handlungsimperativen geben. Entweder erweist der Weg durch die Kriteriologie die bisherige Praxis als zielsicher und situationsgerecht; das kann die Handelnden ermutigen, den eingeschlagenen Weg zielbewusst und sicher fortzusetzen. Die wissenschaftlich angelegte Prüfung der Praxis bzw. eines Handlungsmusters kann allerdings auch nachweisen, dass sich die aktuelle Praxis als nicht mehr angemessen zeigt. Dafür lassen sich nach Zulehner wiederum zwei große Motive ausmachen: Entweder kann das Handeln der Kirche als zielunsicher identifiziert werden, oder es kann ein Handlungsstil einer Situation nicht mehr angemessen sein, da dieser von Prämissen ausgeht, die sich weiterentwickelt und damit verändert haben können. Ein Stil bzw. situativer Umgang mit einer pastoralen Situation kann für seine Zeit adäquat gewesen sein, mittlerweile jedoch unter dem Fortgang diverser Entwicklungen diese Angemessenheit eingebüßt haben. Dies führt unmittelbar in die prophetische Dimension, welche der Praktischen Theologie innerhalb kirchlicher Erkundungsprozesse zukommen kann.
In der Praxeologie ist für den letzten Fall mithilfe der kairologischen und kriteriologischen Ergebnisse eine praktisch-theologische Handlungstheorie für den kairologisch erfassten pastoralen Kontext zu entwerfen. Überdies sind aufgrund dessen bereits erste modellhafte Aussichten auf eine veränderte, weil weiterentwickelte Praxis aufzuzeigen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich das zuvor beschriebene transversale Erkenntnisinteresse innerhalb dieses Dreischritts angemessen verorten: Wenn oben festgehalten wurde, dass unter postmodernen Bedingungen die meisten feststellbaren Dissense als Paradigmenkonflikte identifizierbar werden, eignen sich die Schritte von Kairologie – Kriteriologie – Praxeologie ideal, um Paradigmen transversal zu verschränken. Ein Paradigma wird somit kairologisch erfasst und anschließend kriteriologisch als mit einem anderen unharmonisierbar nachgewiesen. Zugleich können hier trotz aller Heterogenität Brückenpfeiler für eine transversale Verschränkung beider Paradigmen sichtbar werden. Sie führen sodann zu weiteren Kriterien, welche für die praxeologische Umsetzung handlungsleitend