Das Horten von Papierkram schien ein Prozess gewesen zu sein, der sich in kurzer Zeit verschlimmert hatte. Anfangs hatte Berger die Sachen noch gelocht und in Ordner eingeheftet, auch da jedoch ohne Logik oder Organisation. Die beschrifteten Ordner quollen irgendwann über, und so gab er offenbar sein zweifelhaftes System auf und warf alles einfach so in die Kartons, die neben seinem Schreibtisch gestanden hatten.
Nachdem Ulrike mit zwei vollen Tassen Kaffee zurückgekehrt war und wieder an ihrem Platz saß, drehte sie einen karierten Zettel um, der achtlos aus einem Block ausgerissen war. Es war einer der Zettel, auf denen Leonard Berger mit dem Kugelschreiber herumgekritzelt hatte. Eine seltsame Zeichnung, wie manche sie anfertigten, während sie telefonierten oder gelangweilt herumsaßen – davon gab es zahllose.
»Zum Verrücktwerden«, sagte sie und hob den Zettel hoch, sodass Franka das Gekritzel betrachten konnte. »Was soll das sein, eine Fee oder eine Elfe?«
Franka schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung.«
Ulrike musste ganz plötzlich an Anneliese Meier denken, eine Frau, die sie vor ein paar Jahren tot in ihrer Wohnung aufgefunden hatten. Die alte Dame hatte alles aufgehoben, was ihr zwischen die Finger gekommen war. Anders als bei den Messie-Haushalten, die man aus dem Fernsehen kannte, hatte ihr Chaos jedoch ein beeindruckendes System gehabt. Deckel von Flaschen lagen in einem riesigen Korb in der Küche, nach Farbe und Größe sortiert, Puppen im Wohnzimmer reihten sich akkurat an alte Kuscheltiere auf dem Sofa, Teller, Tassen, kaputte Elektrogeräte, Bücher, Hefte, Taschen und Kleidung, alles hatte seinen Platz, alles war aufgeräumt. Die Gänge, die durch die zugestellten Räume führten, waren schmal und von Zeitungsstapeln gesäumt.
Und zwischen all diesem Müll, all ihren Schätzen, saß Anneliese Meier in einem Schaukelstuhl, halb skelettiert, friedlich entschlafen, hinter den dicken Mauern ihrer dunklen Erdgeschosswohnung mitten im Universitätsviertel in Schwabing. Niemand hatte etwas geahnt, die Nachbarn hatten sie als freundliche ältere Dame wahrgenommen, und doch war keinem aufgefallen, dass sie plötzlich nicht mehr da war. Sammeln gegen die Einsamkeit, so hatte man es sich damals erklärt. Es machte Sinn, dass man sich vergrub, wenn man das Gefühl, allein zu sein, nicht mehr ertragen konnte.
Als Ulrike hier nun vor dem Papierchaos von Leonard Berger saß, kam es ihr hingegen plötzlich so vor, als hätte er sein Leben dokumentieren wollen. Als hätte er Zeugnis ablegen wollen, dass er existiert hatte, hier auf all diesen Zetteln. Vielleicht hatte auch Anneliese Meier gesammelt, um nicht in Vergessenheit zu geraten und um sich nicht selbst zu vergessen.
Zwischen all den Belanglosigkeiten fiel Ulrike plötzlich der mehrere Seiten lange, abgegriffene Kaufvertrag für den Hof in die Hände. Der Kauf war durch eine Immobilienverwaltung in Nürnberg abgewickelt worden, nachdem Berger online auf das Objekt aufmerksam geworden war. Den Namen des ehemaligen Besitzers von Nebeleck las Ulrike gerade das erste Mal. Sie stockte.
»Peter König«, murmelte sie. Dann tippte sie den Namen in die Suchmaschine ein. Es bedurfte keiner langen Recherche, um den in Schwanghaus lebenden Peter König ausfindig zu machen. Zahlreiche Zeitungsartikel mit seinem Namen ließen sich online finden. Peter König war der Arzt im Ort, hatte seit letztem Jahr einen Sitz im Gemeinderat und darüber hinaus offenbar eine ganz generelle Freude daran, sein Gesicht in eine Zeitungskamera zu halten. »Gemeinderat eröffnet lokale Fußballsaison«, war der Titel eines Artikels, den ein Foto Königs zierte. Er trug einen Janker, hatte dunkles, grau meliertes Haar, ein strahlendes Lächeln und grüne Augen. Ein nicht unattraktiver Mann um die fünfzig, der freundlich, engagiert und offenherzig wirkte.
Es war nicht unwahrscheinlich, dass Peter König mit Matthias König verwandt war, dem neugierigen Nachbarn mit dem renovierten Holzhaus im Drosselweg, der schon wegen der Schlägerei auf dem Stadtfest im letzten Jahr zu unrühmlicher Prominenz gelangt war. Eine weitere Recherche im Online-Telefonbuch bestätigte: In Schwanghaus gab es mehrere Königs. Ulrike kritzelte den Namen und die Adresse auf einen Block und blätterte ein weiteres Mal den Kaufvertrag durch, als ihr eine kleine Notiz ins Auge fiel. Das Wort »Gutachten«, mit einem Fragezeichen versehen, stand in einer unteren Ecke.
»Was hast du eben gesagt?«, fragte Franka Brandl plötzlich.
»Wann?«
»Eben. Da hast du einen Namen gesagt. König?«
»Peter König. Was ist mit ihm?«, fragte Ulrike.
»Berger hat ihn einige Male angerufen in den letzten Wochen. So wie es aussieht, vor allem nachts.«
Es war eine spontane Entscheidung gewesen, nach Schwanghaus zu fahren, das Gefühl, ihr würde die Zeit davonlaufen, ließ Ulrike nicht los. Sie hatten zu wenige Hinweise, zu wenige Spuren, zu wenige Ressourcen und viel zu wenig Personal. Es war jetzt zehn Uhr abends, und statt Müdigkeit verspürte Ulrike den Drang, irgendwie weiterzukommen, egal wie. Die Rastlosigkeit, die seit Beginn der Ermittlungen ihr ständiger Begleiter gewesen war, trieb sie auch dieses Mal unerbittlich an. Gleichzeitig war sie mittlerweile fest überzeugt, dass sie den Faden hier aufnehmen musste, hier in Schwanghaus.
Franka Brandl war nach Hause gefahren, und da Ulrike sich nach wie vor weigerte, die einstündige Fahrt nach Regensburg auf sich zu nehmen, um in ihre leere Wohnung zurückzukehren, sah es ohnehin nach einer Nacht im Auto oder auf der schwarzen Couch in Yusufs Büro aus. Sie hatte es nicht eilig, ins Bett zu kommen. Und so führte ihre nächtliche Spazierfahrt sie als Erstes zum Haus von Peter König, das sich in einem etwas abgelegeneren Ortsteil von Schwanghaus an einem bewaldeten Hang befand.
Als ihr Wagen davor zum Stehen kam, staunte sie nicht schlecht. Ein Neubaupalast baute sich in der Dunkelheit vor ihr auf. Gläserne Fronten, weiß verputzte Wände, ein gepflegter Vorgarten, gestutzte Buchsbäume. Irgendwo brannte noch Licht in dem gläsernen Gebäude. Durch die riesige Fensterfront im Erdgeschoss konnte Ulrike die Silhouette einer Frau erkennen, die sich langsam durch die Wohnung bewegte. Sie blieb für einige Augenblicke am Fenster stehen, dann drehte sie sich ruckartig um. Das Licht ging aus. Jetzt war es völlig dunkel.
Ulrike legte den Rückwärtsgang ein und fuhr über die Hangstraße zurück in den Ort. Hinter verschlossenen Gardinen brannte Licht, irgendwo wurde krachend ein Rollladen heruntergelassen. Es war totenstill, der Ortskern war wie ausgestorben. In Schrittgeschwindigkeit fuhr sie die Hauptstraße entlang und parkte schließlich auf dem bekiesten Hof des Gasthauses. Der Einfall kam plötzlich, völlig unvermittelt. »Zum Boschuoster« stand in riesigen Lettern über der Tür. Unter dem leuchtenden Gansbräu-Schild hing ein zweites, das leicht im Ostwind hin und her baumelte: »Zimmer frei«. Auch im Inneren brannte noch Licht.
Als sie ausstieg, hörte sie leise Musik und Stimmen. Hinter den bräunlich-grünen Bleiglasfenstern waren einige Gestalten auszumachen, die an der Bar am Tresen lehnten. Sie öffnete die Tür und trat in den verrauchten Gastraum. Zehn Gesichter drehten sich simultan zu ihr um. Aus den Lautsprechern tönte leiser akustischer Blues. »Wir haben schon geschlossen!«, rief ihr jemand schroff entgegen. Der blaue Zigarettennebel raubte ihr den Atem, und erst als sie sich durch den Rauch weiter zur Bar vorgearbeitet hatte, konnte sie die Gesichter der Männer erkennen, die sie schweigend beobachteten. Matthias König stand am äußersten Ende der Bar, eine Zigarette in der Hand. Peter König war auch mit von der Partie.
Ulrike stellte sich neben sie, winkte dem Barkeeper hinter dem Tresen zu und versuchte sich währenddessen ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Sie zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn gut sichtbar nach oben.
»Kripo Regensburg,