Nebeleck. Elisabeth Nesselrode. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisabeth Nesselrode
Издательство: Bookwire
Серия: Oberpfalz Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960417958
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der Schnaps vor ihr stand, hob sie das Glas und nickte den immer noch schweigenden Männern zu. »Prost, die Herren.«

      9

      Als die ersten Sonnenstrahlen durch die halb geschlossenen Jalousien in das kleine Zimmer fielen, öffnete Ulrike die Augen. Sie brauchte einen Moment, um sich darüber klar zu werden, wo sie sich befand und was passiert war. Trotz der brettharten Matratze fühlte sie sich ausgeruht. Das erste Mal in drei Tagen hatte sie wieder in einem richtigen Bett geschlafen. Sie blickte auf ihr Handy. Es war sechs Uhr siebenundzwanzig. In drei Minuten hätte ihr Wecker geklingelt.

      Sie öffnete eine Textnachricht ihrer Schwester, die vor wenigen Minuten abgesendet worden war: KANNST DU DICH MAL BITTE ENDLICH MELDEN?????? Sie sah Silke fast vor sich, wie sie ungehalten auf ihrem Handy herumtippte und den dunklen Lockenkopf verärgert schüttelte. Ulrike war fast versucht, die Nachricht zu löschen, stattdessen gab sie eine schnelle Antwort ein: Melde mich im Laufe der Woche, alles gut. Viel zu tun. Grüße. Nicht jetzt, nicht heute, dachte sie, legte das Gerät zurück auf den Nachtschrank, zog die Jalousien nach oben und öffnete das Fenster. Ein paar Autos rauschten in der Morgensonne durch das Dorf, auf der anderen Straßenseite sah sie einen älteren Herrn, der mit seinem Hund spazieren ging. Ulrike ließ sich zurück auf die Bettkante sinken und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

      Das Zimmer war klein, es hatte kaum fünfzehn Quadratmeter. Neben dem schmalen Bett, einem Nachtkästchen mit einer Bibel und einem Sessel stand noch ein etwas in die Jahre gekommener Schrank aus billigem Furnier in der Ecke. Es roch muffig, es musste Monate her sein, seit das letzte Mal jemand hier drin übernachtet hatte. Der Barkeeper mit den Ohrringen, der sich als Besitzer des Gasthauses herausgestellt hatte, hatte seine Schwester anrufen müssen, damit sie das Zimmer herrichtete. Wortlos hatte Ulrike dann beobachtet, wie die dicke Frau mit den blond gefärbten Haaren und dem dunkelbraunen Ansatz das Bett bezogen hatte. »Sie hain ja a Bscheid gem kinna«, hatte sie irgendwann in breitem Dialekt gebellt, während sie sich schnaufend vorlehnte, um die Matratze mit dem Spannbettlaken zu überziehen.

      »Ja, das hätte ich natürlich«, hatte Ulrike kühl erwidert und sich im nächsten Moment schlagartig an etwas erinnert gefühlt, was Harry einmal zu ihr gesagt hatte, ihr zweiter Mann: »Du wirst irgendwann persönlich, Ulli. Das ist deine größte Schwäche als Polizistin.«

      Ulrike hatte mit Harry zusammengearbeitet, er war ein Kollege, ein Mentor gewesen, und dann irgendwann mehr. Heute dachte Ulrike, dass sie wohl Bewunderung mit Zuneigung verwechselt hatte und Freundschaft mit Liebe. Die Ehe war zum Scheitern verurteilt, da hatte sie noch nicht einmal begonnen. Als sie nun an Harrys Worte dachte, wünschte sie sich, sie hätte es nie so weit kommen lassen. Vielleicht könnte sie ihn dann jetzt anrufen und ihn fragen, was er tun würde. Doch das war so oder so unmöglich.

      Es war nicht das erste Mal, dass sie es vermisste, ihn nach seiner Meinung fragen zu können. Er kannte sie wie niemand sonst, und er hatte recht. Sie war persönlich geworden, nicht nur der Dicken mit den schlecht gefärbten Haaren, sondern dem ganzen Dorf gegenüber. Indem sie hierhergekommen war, hatte sie sich in einem Maße persönlich eingebracht, das man durchaus als unprofessionell bezeichnen konnte. Gleichzeitig war sie immer noch der festen Überzeugung, dass der Schritt gerechtfertigt gewesen war. Berger schien zwar ein Einzelgänger gewesen zu sein, doch er war dennoch im Dorf seltsam präsent, ein unbeliebter Außenseiter, zu dem jeder eine feste Meinung hatte. Ein Dorf, eine Gemeinschaft wie diese, hatte etwas Undurchdringbares. Nun war sie mittendrin, gleich hier im Gasthaus, im zentralen Nervensystem von Schwanghaus.

      Ulrike ging über eine knarzende Holztreppe nach unten, sie hörte Musik aus dem Gastraum.

      »Morgen«, begrüßte sie der Wirt mit den Ohrringen freundlich und lächelte sie an. Er hatte die Fenster geöffnet und war nun dabei, die Tische mit einem feuchten Lappen abzuwischen. »Ich war so frei«, sagte er dann und deutete auf einen Tisch in der Ecke, auf dem ein kleines Frühstück angerichtet war. Wurst, Käse, ein paar Essiggurken, ein kleines Plastikschälchen Honig, etwas Butter und drei Scheiben Graubrot. »Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«

      »Schwarz«, antwortete Ulrike geistesabwesend.

      »Gut geschlafen?«, fragte er, nachdem er an den Tisch zurückgekehrt war, und füllte die weiße Tasse vor ihr aus einem Filterkaffeekännchen.

      »Ja«, antwortete sie.

      »Das freut mich. Hatten lang keinen Gast mehr hier im Zimmer.« Er lachte scheppernd. »Wenn Sie was brauchen, melden Sie sich«, fügte er dann hinzu und zog sich vom Tisch zurück. Wie er so sprach, gelang es Ulrike zum ersten Mal, den leichten Einschlag in seinem Dialekt zuzuordnen, der ihr in den letzten Tagen schon häufig aufgefallen war.

      »Sie fränkeln hier auch alle ein bisschen, oder?«, rief sie ihm grinsend hinterher.

      »Sagen Sie das mal nicht zu laut, Sie sind hier immer noch in der Oberpfalz«, gab er gespielt verärgert zurück und ging vor die Tür, um sich eine Kippe anzustecken.

      Ulrike beobachtete ihn durch das geöffnete Fenster. Er hatte genau wie seine Schwester blond gefärbtes Haar, das etwas zu lang war und ihm struppig über die beringten Ohren hing, und trug ebenfalls einen beachtlichen Bauch vor sich her, der sich unter einem orangefarbenen T-Shirt mit weißem Aufdruck wölbte. Ulrike schätzte, dass er um die vierzig Jahre alt sein musste. Vor der Tür führte er immer wieder die Zigarette an die Lippen, über denen ein borstiger, leicht gelblich verfärbter Schnurrbart thronte. Er ging langsam auf und ab, bemerkte Ulrikes Blick, lächelte sie an und drehte sich wieder zurück, um erneut an der heruntergebrannten Zigarette zu ziehen, bevor er sie in dem kleinen Aschenbecher neben der Tür ausdrückte.

      »Entschuldigung, wie war noch mal Ihr Name?«, fragte sie ihn, als er begleitet von einer Wolke kalten Rauchs durch die Tür zurück in den Raum kam.

      »Goerschel, René«, antwortete er. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Angenehm.«

      »Das ist Ihr Lokal, richtig?«, fragte Ulrike und schob sich ein Stück Graubrot in den Mund.

      Er nickte. »Ja, in der Familie seit fünf Generationen«, antwortete er nicht ohne Stolz und ließ den Blick durch den Gastraum schweifen. »Hab bisschen was verändert vor ein paar Jahren, dass es moderner wird.«

      Ulrike sah sich um. Erst jetzt fiel ihr auf, wie viel Arbeit in die Renovierung des großen Gastraumes gesteckt worden sein musste. Die Wände waren frisch geweißelt, die Lampen über den Tischen bestanden aus von der Decke hängenden Geweihen, an denen Glühbirnen befestigt waren. Das Fachwerk war teilweise freigelegt und aufwendig restauriert.

      »Hab ich mal im Internet gesehen«, sagte Goerschel und wies auf die Lampen. Auch die grün-braunen Bleiglasfenster waren neu hergerichtet worden, die Wände schmückten Fotografien mit Motiven aus den Fünfzigern und Sechzigern, die Tische waren abgeschliffen und neu lasiert, genau wie die dunklen Holzstühle mit dem türkisen Bezug. Ulrike dachte an ihr kleines Zimmer im ersten Stock und konnte sich vorstellen, wie der Gastraum vor der Renovierung ausgesehen haben musste: eine teure Angelegenheit.

      »Viel Kundschaft hier?«

      Er zuckte mit den Schultern. »Viele aus dem Ort, mehr als früher, das schon. Man muss mit der Zeit gehen. Soll familienfreundlicher sein hier, dass die jungen Leute auch mal herkommen. Nächste Woche machen wir Pubquiz.«

      »War der Herr Berger auch mal hier? Leonard Berger vom Nebeleck?«, fragte sie beiläufig und meinte zu beobachten, wie Goerschel um eine Nuance blasser wurde.

      »Ja, der war schon manchmal hier. Nicht oft, aber manchmal, ja.«

      »Und wie war er so?«

      »Ich kannte ihn nicht. Er stand immer da vorn, in der Ecke. Am Stehtisch. Wenn das Wetter gut war, auch draußen. Hat sich fünf, sechs Bier genehmigt, dann ist er wieder abgehauen.«

      »Haben Sie nicht mal mit ihm geredet?«

      »Nein, nein. Nein. Hatte nichts mit ihm zu tun. Keinen Kontakt. Er hat mit keinem was zu tun gehabt im Dorf.«

      Ulrike musterte ihn. Sie hätte auch ohne jahrelange Erfahrung als Polizistin diese letzte Aussage