Peter König seufzte. »Ja, natürlich. Ich denke, davon hat jeder gehört. Ein solches Maß an Brutalität hat die Gemeinde, der ganze Landkreis wohl seit Jahren nicht gesehen.« Er stand auf und schenkte sich etwas Wasser ein. »Entschuldigen Sie bitte, meine Manieren! Wollen Sie auch etwas trinken?«
Ulrike lehnte dankend ab.
»Kannten Sie den Herrn Berger?«, fragte Yusuf, ohne auf die Frage einzugehen.
»›Kennen‹ ist übertrieben. Ich habe ihm den Hof verkauft. Ich hatte das Objekt vor einigen Jahren erworben, hatte einige Ideen dafür, aber daraus ist leider nichts geworden. Ein schöner Hof, sehr schönes Fleckchen. Leider nichts für mich.«
»Also hatten Sie Kontakt zu Berger?«
»Das würde ich nicht sagen, nein. Wir hatten damals kurz miteinander zu tun, doch Herr Berger hat sich dort sehr zurückgezogen. Er hatte wenig Interesse an der Dorfgemeinschaft.« Er zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck.
»Es wurde ziemlich viel über ihn geredet, haben Sie das auch so mitbekommen?«
»Ja, das habe ich. Aber ich halte nicht viel von solchen Schwätzereien. Na ja …« Er legte eine Pause ein und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. »Man soll nicht schlecht über Tote reden. Aber man muss leider zugeben, dass Herr Berger – Gott hab ihn selig – ein nicht gerade angenehmer Zeitgenosse war. Eher unfreundlich, Eigenbrötler, hat nicht gegrüßt … Solche Dinge eben. Man kann nichts machen, so etwas verzeihen die Schwanghauser nur schwer.«
»Klingt so, als hätte er keine Freunde hier gehabt.«
»Keine Freunde, nein. Aber auch keine Feinde. Indifferenz. Das beschreibt es ganz gut.«
Ulrike war der Unterhaltung schweigend gefolgt. Noch immer blieb ihr Gegenüber seltsam konturlos.
»Tanja Grass, kennen Sie die?«, fragte sie.
König blinzelte. Dann hob er fragend die Augenbrauen. »Wer ist das?«
Ulrike antwortete nicht. Sie schlug auf die Stuhllehnen und erhob sich. »Gut, vielen Dank, das war’s fürs Erste.« Sie lächelte.
»Ich freu mich, wenn ich helfen kann«, sagte Peter König, stand ebenfalls auf und reichte ihnen erneut die Hand. Sie hatte sich schon der Tür zugewandt, da drehte Ulrike sich noch einmal um. »Eine Sache noch. Der Herr Berger, der hat sie angerufen. Mehrmals in den letzten Wochen, in der Nacht. Was hat er da gewollt?«
Sie beobachtete, wie Peter Königs Gesichtsausdruck sich kurz änderte. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, das weiß ich wirklich nicht. Wir haben eine Nachtschaltung, ich habe davon nichts mitbekommen.«
Es war nur ein Augenblick, in dem Ulrike fast das Gefühl hatte, als sei eine Maske verrutscht, als hätte sie den Mann vor sich zum ersten Mal begreifen können. »Melden Sie sich, falls Ihnen noch etwas einfällt, ja?«
Peter König nickte. »Ich hoffe, Sie finden, wen Sie suchen.«
»Das werden wir. Ganz bestimmt.« Sie hob ihre Hand zum Gruß, dann verließen Yusuf und sie das Büro.
»Dampfplauderer«, sagte Yusuf, nachdem er die Wagentür hinter sich zugeschlagen hatte.
»Musste das sein, ihn so anzugehen?«, fragte Ulrike genervt.
»Wo ist das Problem? Wenn er doch einer ist?«
»Ein was?«
»Ein Dampfplauderer, Siebengscheiter, soll er halt zum Punkt kommen, Herrschaftszeiten.«
Sie seufzte und verdrehte die Augen. »Mal ganz im Ernst jetzt, Yusuf, es kann niemand –«
»Und was ist das für eine Nummer mit dem Gasthaus? Dass du dich hier schön ins Nest setzt und einen auf Kurzurlaub machst?«, unterbrach Yusuf sie unwirsch.
Ulrike schnaubte. »Wie und mit welchen Mitteln ich diese Ermittlung führe, ist ganz allein –«
Das Telefon klingelte in der Freisprechanlage. »Ja«, meldeten sich beide schroff.
Franka Brandl war am anderen Ende der Leitung. »Jennifer Hellwig ist hier.«
»Wer?«, fragte Ulrike.
»Tanjas Freundin. Jennifer Hellwig. Sie ist freiwillig hier erschienen, heute früh.«
»Und?«
»Kommt am besten her und hört’s euch selbst an.«
***
Sie stand am Geländer der Brücke und blickte nach unten. Ihr Atem ging schwer, die Luft schmerzte ihr in der Lunge. Sie war so müde davon wegzulaufen, sich ständig zu verstecken, gejagt und gleichzeitig übersehen zu werden. Die Tränen, die sie geweint hatte, hatten salzige Krusten auf ihren Wangen hinterlassen. Es war nichts mehr übrig, sie waren versiegt.
Sie wusste nicht, wie viele Tage vergangen waren, seit sie beobachtet hatte, wie die Polizei sich auf dem Hof gesammelt hatte, seit die Rothaarige sie zwischen den Bäumen entdeckt hatte und sie wieder gerannt war. Wie der Teufel gerannt. Es hätten genauso Minuten wie Monate sein können. Sie hatte alles wie durch einen Nebel wahrgenommen. Doch plötzlich war alles ganz klar, all die Fragen, die sie sich gestellt hatte in den letzten Stunden und Tagen, all das schien plötzlich völlig irrelevant hier oben auf der Brücke.
Der Nebel hatte sich aufgelöst. Alles war gestochen scharf, die Stahlpfeiler um sie herum, die Baumwipfel, das satte Grün unter ihr. Sie hatte das Gefühl, die letzte Seite eines Buches aufzuschlagen, die letzten Worte einer Geschichte vor Augen zu haben. Der Wind hier oben blies gewaltig, verwehte ihr braunes Haar. Sie kletterte auf das Geländer, umklammerte den Stahlbalken neben sich und schloss die Augen.
»Du bist nicht wie die anderen, Elfe. Du lässt mich nie allein, richtig, Elfe?«
Sie nickte. Ich komm zu dir zurück, dachte sie. Dann lächelte sie, löste die klammen Finger vom kalten Stahl, streckte die Arme aus und ließ sich vom Wind in die Freiheit tragen.
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