Der Hundezwinger befand sich unterhalb der Scheune, im fahlen Schein der Taschenlampe wirkte er geradezu gespenstisch, wie ein kleines Gefängnis oder ein Kerker. Die Schatten der Gitterstäbe bewegten sich im Licht, je näher Ulrike dem Zwinger kam. Vor der Hütte sah sie die beiden Hundenäpfe aus Edelstahl, einer mit Wasser, der andere zur Hälfte mit einem Gemisch aus Nass- und Trockenfutter gefüllt. Ihre Ahnung bestätigte sich, denn hierfür schien es nur eine plausible Erklärung zu geben: Jemand hatte den Hund gefüttert, und jemand hatte ihn heute früh aus dem Zwinger gelassen.
5
Es war neun Uhr, und das kleine Café vor den Toren der Stadt hatte gerade geöffnet. Ulrike ließ sich an dem einzigen Außentisch nieder, der zu dieser Tageszeit der Morgensonne ausgesetzt war. Ihre Glieder schmerzten, ihr Magen grummelte, und sie sehnte sich nach einem frischen, starken Kaffee. Augenscheinlich war sie mit ihren siebenundvierzig Jahren mittlerweile wohl einfach zu alt, um bis tief in die Nacht zu arbeiten und dann auf einer schwarzen Ledercouch zu übernachten.
Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte in den strahlend blauen Himmel über ihr, der wie schon am Vortag von keiner Wolke getrübt war. Dann beobachtete sie den vorbeifließenden Berufsverkehr auf der vor ihr liegenden Hauptstraße, die Fußgänger, die eiligen Schrittes an ihr vorbei durch das Stadttor in Richtung Innenstadt unterwegs waren, und lauschte auf die gedämpften Gespräche, die Motorengeräusche, das Klackern der Schuhsohlen auf dem Asphalt. Sie streckte die Beine aus und hielt das Gesicht wieder in die Sonne, nachdem sie bei der Kellnerin mit blondem Lockenkopf einen schwarzen Kaffee und ein französisches Frühstück bestellt hatte.
»Guten Morgen«, vernahm Ulrike plötzlich eine bekannte Stimme neben sich. Yusuf Kaya hatte sich vor ihr aufgebaut. »Darf ich?«
Sie nickte kurz und beobachtete, wie er sich auf den gegenüberstehenden Stuhl fallen ließ. »Jackie«, rief er der Bedienung zu, die darauf den Kopf zur Tür rausstreckte. »Morgen! Einen Milchkaffee bitte!« Sie hob den Daumen und verschwand dann eilig wieder im Inneren. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine lange Nacht gehabt«, bemerkte Kaya und klang dabei etwas versöhnlicher als gestern. Seit ihrer Konfrontation war er ihr aus dem Weg gegangen und hatte nur einsilbig auf ihre Fragen und Anweisungen reagiert.
»Lass uns Du sagen, ich bin Ulrike«, entgegnete sie und streckte ihm ebenso versöhnlich die Hand entgegen in der Hoffnung, die Spannungen so etwas aufzulösen. »Was die lange Nacht betrifft, hast du recht. Ich war gestern noch mal beim Hof.«
Er runzelte die Stirn. »Allein? Warum?«
Ulrike erzählte von ihrem Einfall und der nächtlichen Entdeckung im Hundezwinger. »Ich bin keine Expertin, aber das Futter sah frisch aus, nicht wie etwas, das Berger schon vor Tagen hingestellt hätte. Noch dazu hätte Theo früher auf sich aufmerksam machen können, wäre er die ganze Zeit frei herumgelaufen.«
»Und er hat sich nicht selbst aus dem Zwinger befreit?«
Ulrike schüttelte den Kopf. »Keine Spuren am Schloss oder den Gitterstäben. Nichts. Jemand hatte einen Schlüssel, jemand hat ihn gefüttert, jemand hat ihn rausgelassen.«
»War es der Täter?«, fragte Yusuf.
»Ich kann mir das alles überhaupt nicht erklären. Warum hätte er gewollt, dass man die Leiche findet?«
Sie verstummte, als die blond gelockte Jackie mit einem Tablett neben dem Tisch erschien. Nachdem die Kellnerin den Kaffee und das französische Frühstück serviert hatte, nahm Ulrike ihren Gedanken wieder auf. »Und warum erst dann? Er kommt zum Hof, sticht Berger ab und kehrt ein paar Tage später wieder zurück …«
»… füttert den Hund und lässt ihn raus?«, ergänzte Yusuf.
»Völlig unvorstellbar«, sagte Ulrike und riss ein Stück von ihrem Buttercroissant ab.
»Möglicherweise gab es aber eine zweite Person auf dem Hof.«
»Schwer zu sagen. Vielleicht wäre es das Beste, die Spurensicherung durchkämmt noch einmal das Gebiet beim Zwinger.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Wie steht es um die Befragungen in Schwanghaus? Wie weit seid ihr da? Ich warte immer noch auf einen Bericht.«
Yusuf stieß verärgert die Luft aus. »Die Kollegen sind gerade wieder vor Ort. So klein ist das Dorf nicht, mit dem Neubaugebiet sind das immerhin an die tausend Bewohner. Und außerdem denke ich, wir sollten uns eher auf Bergers direktes Umfeld konzentrieren. Wie zielführend kann es denn sein, jeden Nachbarn abzuklappern, zumal wir ohnehin schon wissen, dass Berger ein Außenseiter war?«
»Eben. Er war ein Außenseiter. Die Frage ist doch, warum. Es gibt kein direktes Umfeld.«
»Es gibt den Sohn, es gibt diese Geschichte mit der Schülerin«, gab Yusuf gereizt zurück.
»Das ist mir klar, aber was spricht dagegen, sich die nähere Umgebung anzuschauen? Wir müssen in alle Richtungen ermitteln«, warf sie ein.
»Mit welchem Personal? Uns werden jedes Jahr Gelder gestrichen, gleichzeitig bleibt auch das Tagesgeschäft nicht stehen, nur weil irgendein Wahnsinniger mit einem Küchenmesser durch die Gegend streift. Ich kann meine Leute nicht dazu abstellen, jeden Nachbarn in Schwanghaus zu befragen, es sei denn, die Inspektion in Regensburg schickt zusätzliches Personal.«
»Falls jemand im Ort etwas weiß, was gesehen hat, müssen wir das jetzt in Erfahrung bringen. Jetzt sofort. Du weißt, wie so etwas ist«, erwiderte sie.
»Mein Vorschlag ist, wir konzentrieren uns auf sein privates Umfeld, und dann sehen wir weiter.«
Er bedachte sie mit einem herausfordernden Blick, und Ulrike spürte, wie sie sich unwillkürlich verkrampfte. Sie beugte sich vor. »Das ist nicht der richtige Augenblick, um Kante zu zeigen, Yusuf. Ich leite die Ermittlungen, und ich möchte, dass das Dorf auf links gekrempelt wird. Der Bericht liegt heute Nachmittag auf meinem Schreibtisch.«
Sie lehnte sich zurück und trank von ihrem Kaffee. Er war kalt geworden.
»Euch geht’s gut? Braucht ihr noch was?«, flötete Jackie aus der Tür des Cafés in die drückende Stille hinein. Bevor einer der beiden antworten konnte, klingelte Yusufs Handy.
»Er ist da?«, hörte Ulrike ihn sagen, nachdem er das Gespräch angenommen hatte. Anton, dachte sie, wickelte den Rest ihres Croissants in eine Serviette und trank den letzten Schluck Kaffee. Yusuf legte auf und winkte Jackie zu.
»Ich schreib’s an!«, rief sie ihm hinterher.
Anton Berger kam nach seinem Vater. Dieselben Augen, dasselbe Lächeln, das in dem Moment der Begrüßung schwach und flüchtig über sein Gesicht huschte. Er sah übernächtigt aus, das schwarze Polohemd war zerknittert und sein Haar leicht zerzaust. Seine Freundin war ebenfalls dabei, eine brünette Schönheit mit langen dünnen Beinen, vollen Lippen und einer frechen Stupsnase.
»Vanessa Lehmann, angenehm«, sagte sie und schüttelte Ulrikes Hand.
»Fischhändchen«, hatte ihre Großmutter immer gesagt, wenn Ulrike beim Handschlag nicht zudrückte. Ein Fischhändchen hatte auch Vanessa Lehmann gegeben. Sie wirkte unsicher und genau wie ihr Freund übernächtigt. Yusuf und Ulrike führten sie in Yusufs Büro, Ulrike schloss die Tür hinter ihnen und wies sie an, sich auf die Stühle vor Yusufs Schreibtisch zu setzen. Er stellte sich in den Türrahmen, Ulrike nahm auf seinem Stuhl Platz.
»Ich weiß nicht, wie viel die Kollegen in München Ihnen schon erzählt haben, Herr Berger, aber Ihr Vater wurde gestern früh –«
»Er wurde ermordet«, unterbrach Anton Berger sie, seine Stimme hatte eine seltsame Klangfarbe angenommen, als er diese drei Worte ausgesprochen hatte. Für einen Augenblick wurde es ruhig, Vanessa legte einen Arm um seine Schulter. Er blickte auf seine Hände, die flach auf