Heinrich der Löwe. Joachim Ehlers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Ehlers
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243796
Скачать книгу
auf Grund einer 1134 durch Heinrich den Stolzen vermittelten Information zur welfischen Hausüberlieferung. Dieses Werk ist verloren, kann aber in großen Teilen aus zwei Chroniken rekonstruiert werden, deren Verfasser es benutzt haben: Aus der Reichschronik des Annalista Saxo und aus dem Anhang IV der Sächsischen Weltchronik.2 Schon in die Zeit Heinrichs des Löwen gehört schließlich als dritter Text welfischer Familiengeschichtsschreibung die zwischen 1167 und 1174 vielleicht in Altdorf-Ravensburg verfaßte Historia Welforum.3

      Am weitesten greift die Historia in die Vergangenheit zurück, denn sie leitet die Welfen von den Franken her und übernimmt dabei eine sagenhafte Tradition aus dem 7. Jahrhundert, der zufolge die Franken ebenso wie die Römer von Flüchtlingen aus Troja abstammen und deshalb kein barbarisches, sondern ein antikes Volk sein sollen.4 Erst in den Rheinlanden hätten sich die Welfen von den Franken getrennt und eigenes Siedlungsgebiet erschlossen. Den römischen Kaisern hätten sie die Lehnshuldigung verweigert und sich ihren Haushalt in königlicher Art und Weise eingerichtet, regio more, mit Grafen als Inhabern von Hofämtern. Sie wären reich und mächtig gewesen, Wohltäter der Kirchen von Konstanz, Augsburg, Freising, Chur, Kempten und Ottobeuren. Der erste namentlich bekannte Ahnherr hätte zur Zeit Karls des Großen gelebt, also zwischen 768 und 814; es wäre ein Graf Welf gewesen, Gwelfo comes, und zur Erklärung dieses Namens hat der Verfasser der Historia zwei Versionen gehört, die sich auch schon in der Genealogia finden. Demnach hätte einer der ältesten Vorfahren die Tochter eines römischen Senators namens Catilina geheiratet und einen Sohn gezeugt, der ebenfalls Catilina hieß, zu deutsch Gwelf. Dieser Name wäre von den Nachfahren aber als ungehörig abgelehnt und erst auf Grund des zweiten Erklärungsmodells akzeptiert worden: Als einer der Vorfahren auf die Nachricht von der Geburt seines Sohnes das Gefolge des Kaisers verlassen wollte, spottete dieser: »Wegen eines Welpen – pro gwelfo sagt die Historia, pro catulo die Genealogia –, der dir geboren ist, willst du nach Hause?« Der junge Vater nahm das Wort als Namen seines Kindes an und gewann den Kaiser für die Patenschaft.

      Hier spielt die Überlieferung mit der mehrdeutigen Etymologie des Wortes catulus und der Verbindung zur römischen Geschichte, die erwünscht, aber doch sehr problematisch war, denn Cicero hat in berühmten Staatsreden Catilina als politischen Verbrecher so nachhaltig diskreditiert, daß die Träger der welfischen Tradition den Namen mißbilligten, ihn aber eben doch nicht unterdrückten, so daß Welf IV. zum Jahr 1075 dux Catulus genannt werden konnte, Romanorum de gente vetusta (»Herzog Welf, aus altem römischen Geschlecht«).5 Mit dem Wort catulus bezeichnen die Etymologiae, ein noch im Hochmittelalter angesehenes enzyklopädisches Lexikon des spanischen Gelehrten Isidor von Sevilla aus dem 7. Jahrhundert, einerseits das Junge des Löwen, und sie nennen den Löwen selbst »Fürst aller Tiere« (princeps omnium bestiarum),6 andererseits empfehlen sie, das Wort nur für die Jungen der Hunde zu verwenden, weil catulus (Hündchen) das Verkleinerungswort zu canis (Hund) sei.7 Bei dieser Bedeutung »Jungtier«, »Welpe«, »junger Hund« ist es im Mittelalter geblieben, ohne daß aber der Bezug auf den Löwen ganz vergessen worden wäre. Für die Welfen und besonders für Heinrich den Löwen ergaben sich daraus drei Perspektiven, nämlich die Etymologie des Familiennamens (Welpe ▸ Welf ▸ Welfen), zum anderen das weite Feld der bibelexegetisch-literarischen Löwenallegorese und schließlich die Verwendung des Löwen als fürstliches Symbol.

      Der Historia zufolge hatte Welf einen Sohn namens Eticho, mit dem die Genealogia und die Welfenquelle die Familiengeschichte erst beginnen lassen, wobei die Welfenquelle ihn als bayerischen Fürsten mit dem Doppelnamen Eticho-Welf einführt und die Historia seine Schwester Judith erwähnt, die Kaiser Ludwig der Fromme als zweite Gemahlin nahm. Die Verwandtschaft der Welfen mit dem karolingischen Haus kommt der Genealogia und der Welfenquelle zufolge erst in der nächsten Generation zustande, doch an der historischen Grundlage dieser Nachrichten ist neuerdings gezweifelt worden,8 und angekündigte Forschungen werden erweisen, ob als ältester Vorfahre der Welfen weiterhin ein fränkischer oder vielleicht auch alemannischer Graf Ruthard († vor 790) angenommen werden darf, der für König Pippin die Integration Alemanniens in das Frankenreich betrieb und dabei nördlich des Bodensees reichen Besitz erwarb. Einer seiner Nachkommen soll Welf gewesen sein, dessen Tochter Judith als zweite Gemahlin Kaiser Ludwigs des Frommen die Mutter des westfränkischen Königs Karl der Kahle wurde;9 Judiths Bruder Konrad ist über seine Söhne Konrad und Welf I. Stammvater sowohl der burgundischen als auch der süddeutschen Welfen. Welfs I. Sohn Eticho gehört demzufolge nicht, wie das Familiengedächtnis will, ins frühe 9. Jahrhundert, sondern an die Wende zum 10. und dürfte um 910 gestorben sein. Trotz dieser Verschiebungen innerhalb der Generationenfolge und einiger Differenzen beim Bestimmen der karolingischen Verwandtschaft erfassen alle drei Aufzeichnungen die wichtigen Personenverbindungen und die Grundlinien der welfischen Erfolgsgeschichte doch so, daß man nicht von freier Erfindung einer großen Vergangenheit wird sprechen dürfen, eher im Gegenteil: Solange adlige Familien nicht als geschlossene Formationen nach der Blutsverwandtschaft in der Vater/ Sohn-Folge (agnatisch) organisiert und definiert waren, sondern als offene Großverbände unter Einschluß auch der angeheirateten Personen (cognatisch), sind die genauen Zeitstufen und Verwandtschaftgrade auch für die moderne Forschung nicht immer eindeutig erkennbar; wer in der Übergangszeit vom cognatischen zum agnatischen Familienverständnis schrieb, hatte es mit dem Aufbau einer genealogischen Ordnung schwer.

      STUFEN DER ERINNERUNG:

      DIE FAMILIE SICHERT IHRE GESCHICHTE

      »Genealogia Welforum«, aufgezeichnet 1123/26 in Altdorf-Ravensburg

      »Sächsische Welfenquelle«, aufgezeichnet 1132/37 wohl im Kloster St. Michael zu Lüneburg

      Alle drei Texte der frühen welfischen Hausgeschichte nennen einen Heinrich († nach 934) als Sohn Etichos und schreiben ihm außer dem Gewinn des schwäbischen Eigengutes um die Ravensburg auch die Übernahme von Reichslehen in Bayern zu; tatsächlich gründete Heinrich in Altdorf eine geistliche Frauengemeinschaft und baute den welfischen Besitz vom nordöstlichen Bodenseegebiet bis nach Oberschwaben, ins Voralpengebiet und in den Raum beiderseits des Lech aus. Von dort gelang ihm der Vorstoß ins Bayerische; ob dabei aber königliche Lehnsvergabe eine Rolle gespielt hat, wissen wir nicht. Heinrichs Söhne Rudolf und Konrad, Bischof von Konstanz († 975), werden in allen drei Familientexten genannt, aber die Welfenquelle datiert die beiden Brüder um eine Generation versetzt in die Zeit König Heinrichs I. († 936), während Genealogia und Historia Rudolf mit Ita von Öhningen eine Enkelin Kaiser Ottos I. († 973) heiraten lassen und auf diese Weise zur schon erwähnten karolingischen Deszendenz der Welfen eine Abstammung vom ottonischen Kaiserhaus einführen; ob sie wirklich bestanden hat, kann nicht mehr eindeutig entschieden werden. Rudolfs Sohn Welf II. († 1030) baute in der Nähe von Altdorf die Ravensburg und heiratete eine luxemburgische Grafentochter namens Imiza, von der die welfische Erinnerung weiß, daß sie »aus salischem Geschlecht« (de gente salica) war;10 zur Familie der Luxemburger, die sich auf Karl den Großen zurückführte, gehörte die Kaiserin Kunigunde († 1023), Gemahlin Kaiser Heinrichs II. Auffällig ist das Attribut salicus, denn es wird im 12. Jahrhundert selten gebraucht und weist nicht immer auf die salischen Kaiser, sondern bezeichnet vornehme Personen und einen hohen, schon lange bestehenden gesellschaftlichen Rang.11 Weil die Familie Imizas auch in Bayern begütert war, verstärkte ihre Verbindung mit Welf II. dessen Basis östlich des Lech, um den Oberlauf des Inn, im Vinschgau und im unteren Engadin.

      Nach dem Tod Welfs II. im Jahre 1030 verlegte sein Sohn Welf III. den Altdorfer Konvent auf eine nahegelegene Anhöhe; das Kloster heißt seither Weingarten und besteht an dieser Stelle noch heute. Mit Welf III. stieß die Familie zum ersten Mal auf die höchste Ebene des Fürstentums vor, als Kaiser Heinrich III. ihm 1047 das Herzogtum Kärnten und die Markgrafschaft Verona verlieh. Welfs Tod im Jahre 1055 löste allerdings eine schwere Krise aus, weil »er ohne einen Sohn als Erben starb und der ganze Besitz an den heiligen Martin in Weingarten fallen sollte«.12 Ohne diese materielle Basis wäre die Geschichte der Familie abrupt und endgültig zu Ende gegangen, denn von den älteren Welfen war nur Welfs Schwester Cuniza übriggeblieben. Sie hatte um 1035 den Markgrafen