Heinrich der Löwe. Joachim Ehlers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Ehlers
Издательство: Автор
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Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243796
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      Gerade die kritischen Akzente dieses Bildes vermischen jedoch mehr oder weniger unbewußt individuelle mit typischen Verhaltensweisen. Alle Angehörigen der hohen Aristokratie waren äußerst empfindlich auf ihren Rang und ihr Ansehen bedacht, ihren honor, und sie taten dafür manches, was nach neuzeitlichen Vorstellungen von Staatsräson unvernünftig und nach allgemein menschlichem Empfinden unrecht war. Nach den Regeln der mittelalterlichen Adelsgesellschaft aber wäre anderes Verhalten für sie wenig sinnvoll gewesen, denn vom Rang hing alles ab: Das Recht auf Mitsprache, auf Gehör überhaupt, die Fähigkeit zum Behaupten der eigenen Herrschaft gegen Konkurrenten und damit das Bewahren jener materiellen Basis, die wiederum Voraussetzung des gesellschaftlichen Ranges war. Deshalb gab es deutliche Wechselwirkungen zwischen faktischer politischer Macht und der Fähigkeit, diese Macht repräsentativ vorzuführen. Das galt natürlich nicht nur für das Verhältnis zwischen König und Fürsten: Jeder dieser Großen hatte innerhalb seines eigenen Herrschaftsbereiches mit den Vertretern regionaler Adelsfamilien umzugehen, mit geistlichen und weltlichen Herren, denen gegenüber er sich genau so verhielt und verhalten mußte, wie es im großen Maßstab des Reichsverbandes der König gegenüber Bischöfen, Herzögen, Markgrafen und anderen Mächtigen tat. In dieser Gesellschaft hielten auf mittlere Sicht nur solche Leute ihre Position, die durch Auftreten und Gefolge zweifelsfrei als Herren erkannt und akzeptiert wurden, ausgestattet im übrigen mit der Fähigkeit, Akzeptanz im Konfliktfalle zu erzwingen.

      Wir besitzen kein zeitgenössisches Porträt Heinrichs des Löwen, denn die Darstellungen auf dem Widmungsbild des Evangeliars aus der Stiftskirche St. Blasius in Braunschweig (links) und in seinem Psalter (rechts)zeigen trotz der Ähnlichkeit untereinander nur, daß die Helmarshausener Malschule eine Bildformel für Gesichter entwickelt hatte.

      Gewalt spielte infolgedessen eine bedeutende Rolle. Unsere Vorstellungen von ritterlicher Zivilisation und höfischer Kultur werden von den zahlreichen Zeugnissen stark formalisierter Verhaltensweisen bestimmt und sind deshalb nicht schlechthin falsch, aber sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß solche Formen wie ein fragiler Schleier über die alltäglichen Zwänge einer hochmilitarisierten Gesellschaft gebreitet waren. Scharfe Konkurrenz der Führungskräfte untereinander kennzeichnete eine politische Verfassung, innerhalb derer dem König die vorsichtig nutzbare Möglichkeit offenstand, loyale Kräfte zu fördern und dadurch ihr Ansehen zu steigern, anderen durch Huldverlust den Rang zu entziehen, notfalls mit Hilfe der Konkurrenten.

      Im Abstand von achteinhalb Jahrhunderten ist es nicht leicht, diese wechselvollen Aktionen deutlich zu erkennen, ihre Abläufe und Kausalitäten richtig zu begreifen, die wirklichen Handlungsmotive zu bestimmen und Mentalitäten zu verstehen, die ihrerseits handlungsbestimmend gewirkt haben. Gefährlich vor allem ist eine Ungeduld des späten Betrachters, der das Ende kennt, alles darauf zulaufen sieht und beiseite schiebt, was den zügigen Ablauf hemmt; wer den Gang der Dinge von den Resultaten her beurteilt, macht sich selbst intelligenter und einsichtsvoller, als er ist, und entsprechend dümmer und naiver werden ihm die historischen Akteure erscheinen. Die Aktion im Unvorhersehbaren machte aber das Leben eines Fürsten wie Heinrich der Löwe aus, infolgedessen ist die Frage nach den Gründen seines Handelns (die immer auch als Antriebskräfte fürstlicher Existenz schlechthin verstanden werden müssen) biographisch aufschlußreich, selbst dann, wenn wir mittelalterliche Zeugen vernehmen, die unseren Fragen wenig entgegenkommen. Diese Zeugen interessieren sich so gut wie gar nicht für individualpsychologische Aspekte und geben deshalb kaum Auskunft über Individuen, sondern sprechen als mehr oder weniger literarisch Gebildete in den Formen einer römisch-antiken Tradition, die ihnen Muster und Typen geliefert hatte, mit deren Hilfe sie die Welt verstehen wollten, das Individuelle aus dem Allgemeinen, das Einmalige aus dem Exemplarischen. Weil Heinrich der Löwe ein Fürst (princeps) ist, wird er am antiken Begriff vom Princeps gemessen, einem Begriff freilich, der längst nach den besonderen Bedingungen des Mittelalters verformt ist, und deshalb lesen wir zunächst nicht, wie der Herzog war, sondern wir erfahren, wie sich der jeweilige Autor einen Fürsten vorstellte und welches Bild seine Zeit vom Fürsten hatte. Obwohl dieses Bild von der römisch-antiken Bildungstradition geformt ist, führt es doch weniger auf Abwege, als es zunächst scheinen mag, denn die Vorstellungen seiner Zeitgenossen bestimmten natürlich auch das Bild des Fürsten von sich selbst. Er mußte darauf reagieren, wenn er sich unter ihnen behaupten wollte. Die aristokratische Gesellschaft legte Wert auf Legitimität der herrschaftlichen Position und der herrschaftlichen Aktion; Herrschaft mußte gegen den Druck der Konkurrenten nicht nur politisch und militärisch behauptet, sondern auch juristisch und ideologisch vertreten werden, ja noch mehr: Der Machthaber mußte sich als solcher darstellen, angepaßt den Sehgewohnheiten der zeitgenössischen Betrachter, damit sie ihn ohne Zögern und Nachfragen als Fürsten hohen Ranges erkannten und annahmen.

      Diese Kunst der repräsentativen Selbstdarstellung hat Heinrich der Löwe vollkommen beherrscht, und er hat dafür in einer Zeit kaum ausgebildeter staatlicher Institutionen und in einer Gesellschaft schwer voneinander abgrenzbarer personaler Beziehungen ein attraktives Zentrum geschaffen, das Menschen, Macht, materielle und intellektuelle Ressourcen zu integrieren begann: Der Hof des Herzogs war wie alle bedeutenden Höfe seiner Zeit ein schillerndes Gebilde, als wechselndes Gefolge unablässig mit dem Herrn unterwegs, aber dieser Herr gab ihm durch sorgfältige Auswahl seiner ständigen Begleiter einen festen Kern und durch den Ausbau des Braunschweiger Burgbezirks mit Herzogspfalz, Stiftskirche, Löwendenkmal, auch durch Befestigung der erweiterten Stadt mit Wall und Graben, einen sicheren und markanten, früh weithin bekannten und vor allem anerkannten Bezugspunkt im Lande. Das Bewußtsein legitimen Anspruchs auf die so dargestellte Herrschaft gehörte fest zum Selbstverständnis Heinrichs des Löwen, der sich als vorläufigen Höhepunkt einer uralten aristokratischen Tradition und Geschichte sah. Tatsächlich gab es keine Familie im Reich, die sich ihrer ruhmvollen Vergangenheit über einen ähnlich langen Zeitraum so detailliert erinnerte wie die Welfen.

      Die Welfen, Sachsen und das Reich

      Die Familie

      Geschichte und Erinnerung sind der Nährboden adliger Selbstgewißheit. Sie lebt aus der Überzeugung, daß hoher Rang auf den Leistungen der Vorfahren beruht und von den Späteren durch Geburt erworben wird. Aristokratie im wörtlichen Sinne, »Herrschaft der Besten«, gibt es nur deshalb, weil der Ruhm großer Taten sich vererbt, und je länger die Reihe erfolgreicher Ahnen, um so größer der angesammelte Schatz adliger Qualität. Insofern ist Erinnerung auch Voraussetzung von Herrschaft, weil den Lebenden ihre Eignung und ihr Recht zum Führen durch Besinnung auf tüchtige und berühmte Vorfahren immer wieder bestätigt wird. Mit dem Ruhm (gloria) und dem Ruf (fama) seiner Familie im Rücken, will sich der Herr im Kreis seiner Standesgenossen behaupten, die er als offene oder potentielle Konkurrenten begreifen muß. Die Aufstellung solcher Ahnenreihen findet ihre ehrwürdigen Muster in den Erzvätergeschichten der Genesis mit den Linien von Abrahams Vorfahren und Jakobs Söhnen oder als Stammbaum Jesu im Evangelium des Matthäus.

      Bei der Pflege ihrer Hausgeschichte haben sich die Welfen zeitüblicher Mittel bedient, wenn sie nach den Gräbern ihrer Ahnen suchten und ihnen Grablegen unter der Obhut geistlicher Gemeinschaften einrichteten, die im Gottesdienst der Toten gedachten oder ihre Namen und Taten aufzeichneten. Auf diese Weise entstand Hausüberlieferung, von familiennahen Klerikern erzeugt, erinnert, ausgestaltet und verbreitet. Als erste deutsche Adelsfamilie haben die Welfen ihre Geschichte schriftlich festhalten lassen, wobei sich bis zum Auftreten Heinrichs des Löwen zwei Stränge unterscheiden lassen. Der erste umfaßt das Wirken der Familie in Süddeutschland – in Schwaben und als Herzöge von Bayern – bis zur Bildung eines Herrschaftszentrums nördlich des Bodensees um Altdorf und die Ravensburg in den zwanziger Jahren des 11. Jahrhunderts. Dort, in Altdorf-Ravensburg, entstand zwischen 1123 und 1126 die Genealogia Welforum,1 die Ursprungsgeschichte der Welfen. Der zweite Strang beginnt mit dem Ausgreifen der Familie in den Norden und erreicht seinen abschließenden Höhepunkt mit dem Gewinn der Herzogswürde auch in Sachsen durch Heinrich den Stolzen. In Sachsen wurde zwischen