Er prüfte schweigend seine Verletzungen im Seitenspiegel eines verbeulten Unfallwagens und wollte gerade entschuldigend einlenken, als er im Spiegel sah, wie Martin sein verschwitztes Hemd auszog. Helmut blieb wie versteinert in seiner gebückten Position stehen, vergaß seine Entschuldigung und starrte nur auf den nass glänzenden Rücken seines Freundes, auf dem sich jeder Muskel zu bewegen schien. Es war ein anderer Mann, es war eine andere Situation, aber es war wie eins der Bilder, die ihn immer und immer wieder daran erinnerten, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte. Gern hätte er einfach losgebrüllt, um das Bild zu verscheuchen. Noch lieber wäre er weggelaufen, bis zum Rhein runter und immer weiter, damit niemand sah, schon gar nicht Martin, wie groß seine Angst in solchen Momenten war, endgültig die Kontrolle über sich zu verlieren.
»Komm, vergessen wir’s. Noch auf ein Kölsch? Geht auch auf mich.«
Das plötzliche Versöhnungsangebot von Martin riss Helmut zurück in die Realität. Er richtete sich ertappt auf und wich dem irritierten Blick seines Freundes aus.
»Ist was?«
»Nein.« Helmut stopfte das blutige Handtuch und die Boxhandschuhe in seine Tasche.
»Mensch Helmi, jetzt sei nicht sauer. Du weißt, dass ich das hasse, wenn man mich klein nennt. Schon immer.«
»Ja.«
»Ihr werdet sicher richtig glücklich. Du und Marlene. Das mit der Wurst war gerade nur so aus der Wut …«
»Ja, mir tut’s auch leid.«
Martin kam auf Helmut zu und legte ihm versöhnlich eine Hand auf die Schulter. »Schon vergessen. Also noch ein Bier? Fahr dich später auch nach Hause.«
Doch Helmut wollte nur noch weg. »Ein anderes Mal, ich muss los.«
Bevor Martin protestieren konnte, schob Helmut schon das knarrende Metalltor auf und verabschiedete sich. Es war noch hell draußen und der Wind, der seit einigen Tagen aus dem Süden kam, machte die Luft angenehm warm. Und sauber. Doch sein einmaliges tiefes Durchatmen brachte ihm auch keine Erleichterung. Und schon als er mit seinem Rad aus dem Werkstatthof fuhr, wusste er, dass er wie immer nicht die kürzeste Strecke auf die linke Rheinseite nehmen würde. Er würde einen Umweg zur Hohenzollernbrücke nehmen, am Messegelände vorbeifahren, das Staatenhaus umrunden, nur um am Hintereingang der Bundesgartenschau einen schnellen Blick in den Rheinpark zu werfen.
Und für diesen verdammten Drang in sich, nur für den Bruchteil einer Sekunde Enzo mit seinem Eisfahrrad sehen zu können, hasste er sich am allermeisten.
Die Sonne steht mittlerweile schon ziemlich tief und ich bin froh, dass das Ziel unserer gemeinsamen Etappe langsam näher rückt. Und mit langsam meine ich extrem langsam. Wir laufen wie zwei Schildkröten, deren einzige Tagesaufgabe es ist, einem niemals flüchtenden Salatkopf hinterherzujagen. So langsam.
Seit einer kurzen Trinkpause, bevor es nur noch durch dichte Wälder bergab gegangen war, hinkt Liz wieder stärker. Doch sofern sie das nicht kommentiert, schweige ich auch. Sie ist schließlich alt genug, um zu wissen, was gut oder schlecht für sie ist.
Ich denke noch mal über diesen unbekannten Helmut nach. Und komme nicht zum ersten Mal zu der Erkenntnis, dass es ziemlich bescheuert ist, dass man Gefühle nicht einfach per Knopfdruck abstellen kann. Damit würden sich so viele Probleme von selbst lösen. Helmut hätte Enzo vergessen und wäre sehr wahrscheinlich mit Marlene glücklich geworden. Ich selbst hätte Jonas schon längst auf einem Stapel Erinnerungen abgelegt, ohne diesen Stapel wie einen Wäscheberg ständig wieder durchwühlen zu müssen, als wäre ich auf der Suche nach meinem Lieblingspullover.
»An wen denkst du gerade?«
Liz zieht getrocknete Apfelringe aus ihrer Hüfttasche und bietet mir welche an.
»Wieso an wen? Vielleicht denk ich ja auch an was.«
Doch schon als ich es ausspreche, merke ich, wie wenig Lust ich habe, ständig nur um den heißen Brei herumzureden. Vermutlich wird Liz’ und mein Weg sich spätestens bei unserer Ankunft in Stia trennen. Was weniger an den getrennten Unterkünften für die kommende Nacht liegen wird als vielmehr an Liz’ Verletzung, mit der sie am nächsten Tag garantiert nicht weiterlaufen kann. Und weil genau das auf natürlichem Weg zahlreiche Nachfragen verhindern wird, entschließe ich mich, ihr zum Abschied noch ein bisschen meiner Geschichte zu verraten.
»Jonas. Er heißt Jonas. Aber eigentlich hab ich gerade gar nicht so viel an ihn gedacht, sondern, dass es toll wäre, wenn wir Gefühle abstellen könnten. So auf Knopfdruck.«
»Und wegen diesem Jonas würdest du diesen Knopf drücken?«
»Vermutlich.«
»Aber was wären wir dann, wenn wir das könnten? Wären wir dann noch Menschen oder schon Maschinen?«
Ich will keinesfalls klein beigeben. »Glücklicher wären wir, weil Verletzungen schneller heilen würden zum Beispiel.«
Liz schweigt, doch ich sehe an ihren zappeligen Fingern, dass sie nachdenkt. So gut kenne ich sie immerhin schon.
»Ich glaube, ich wäre nicht glücklicher, wenn ich alle Verletzungen, Trennungen und Tränen einfach so beiseite hätte wischen können. Weil ich dann heute ja gar nicht genau wüsste, was Glück ist.«
»Muss man denn immer Unglück und Traurigkeit kennen, um zu kapieren, dass man zwischendurch auch mal glücklich ist? Das ist doch voll bescheuert. Geht’s denn nicht auch andersrum?«
»Das liegt ganz allein an dir. Und daran, was hier drin passiert.« Liz tippt mir auf die Brust. »Was hat dieser Jonas denn gemacht?«
»Ach«, so richtig will ich jetzt doch nicht mehr reden. »Der war einfach nicht so nett zu mir. Wir waren mal beste Freunde, dann minimal kurz so was wie verliebt und zusammen und dann sind Sachen passiert, die nicht so schön waren.«
Das muss reichen. Doch Liz wartet natürlich darauf, dass ich mehr verrate.
»Nicht so schön?«
Ich schüttele den Kopf. »Nicht so wichtig.«
»Weil es noch wehtut?«
»Ein erzwungenes Outing hört nie auf, wehzutun.«
»Das hat er getan?«
»Ja. Mit einem Video. Für alle sichtbar.«
»Shit. Warum?«
»Weil er seine kleine Schwester verloren hat. Und weil er danach alles kaputt machen musste, was irgendwie noch gut war in seinem Leben.«
Liz schüttelt ihren Kopf. »Nicht schön.«
»Sag ich ja.«
Keine Ahnung, ob sie kapiert, was es bedeutet, mit 16 nackt über den Social-Media-Schulhof gejagt zu werden. Und zwar im wahrsten Sinne nackt. Und schutzlos. Vermutlich nicht. Weil die wenigsten Menschen kapieren, was es bedeutet, an einem Tag noch der coole Typ zu sein und am anderen Tag die absolute Lachnummer. Verarscht vom besten Freund, in den man blöderweise auch noch verliebt ist, verarscht von allen anderen. Es stellt dein Leben auf den Kopf. Und es tut weh. Verdammt weh. Ganz tief drin an einem Ort, der eigentlich für schöne Gefühle reserviert sein soll.
»Wann war das?«
Ich muss nicht lang überlegen. »Vor fast vier Jahren.«
Von Liz kommt keine Reaktion und ich bin froh drüber, weil ich sonst hätte zugeben müssen, dass diese Arschlochaktion von Jonas seit vier Jahren mein Leben im Griff hat. Vier Jahre von 19, ein ziemlich mieser Schnitt.
Natürlich kann Liz selber rechnen. »Und wie lang soll das noch dauern?«
»Was?«