Während La Serna seine Position im Hochland konsolidierte, hatte sein Kontrahent in Lima mit zunehmenden Schwierigkeiten zu kämpfen. In den ersten fünf Monaten seiner Herrschaft unterzeichnete San Martín eine Fülle von Dekreten und drohte sich im administrativen Gewirr zu verlieren. Bezüglich seines Hauptauftrags, den Feind zu stellen und den Krieg siegreich zu beenden, machte er keinerlei Fortschritte. Im Gegenteil: Mitte September schlugen sich royalistische Streitkräfte vom Mantaro-Tal bis zum Hafen Callao durch. Sie evakuierten die Festung Real Felipe, plünderten Limas Stadtkasse und kehrten unbehelligt ins Hochland zurück. Dass San Martín eine offene Konfrontation vermied, trug ihm bei der hauptstädtischen Bevölkerung wenige Sympathien ein. Mit einer Reihe von unpopulären Maßnahmen brachte er breite Sektoren zusätzlich gegen sich auf. Am schwerwiegendsten erwies sich die gegen Europaspanier und spanientreue Kreolen gerichtete Verfolgungskampagne unter Leitung seines Sekretärs, des neu ernannten Kriegs- und Marineministers Bernardo Monteagudo (1790–1825). Monteagudo, der einen schwarzen und einen weißen Elternteil hatte und aus dem argentinischen Tucumán stammte, war ein gewiefter Ideologe, der die politischen Vorstellungen des Protektors teilte. Nicht zuletzt wegen seiner Hautfarbe schlug ihm der offene Hass mancher Limeñer Kreolen entgegen, die ihn als »mulattischen Priapos und Entjungferer weißer Mädchen« verspotteten. San Martín und Monteagudo drängten auf der Schließung der kirchlichen Bußhäuser, in denen adlige Spanier und mutmaßliche Gegner aufgrund des kirchlichen Asylschutzes Zuflucht gefunden hatten. Ihr Druck wurde so stark, dass der Erzbischof von Lima, Bartolomé de Las Heras, der die Unabhängigkeits-
Abb. 5: Cusco, einstige Hauptstadt des inkaischen Großreiches.
urkunde mitunterzeichnet hatte, die Stadt mit dem Ziel Spanien verließ. Gegen Jahresende verschärfte Monteagudo die Ausweisungs- und Konfiszierungskampagnen. Die Schiffe im Hafen Callao füllten sich mit Flüchtlingen und Vertriebenen. Wer emigrierte, verlor zwangsläufig mindestens die Hälfte seiner Güter. Hatten sich die Repressalien anfänglich gegen unverheiratete Europaspanier gerichtet, so wurden sie bald auf alle Personen ausgeweitet, die nicht beweisen konnten, dass sie die Unabhängigkeitsbewegung unterstützt hatten. Selbst bewährte »Patrioten«, deren republikanischer Liberalismus dem monarchistischen Konzept der Machthaber zuwiderlief, wurden bestraft und verbannt. Laut dem Reisetagebuch des schottischen Geschäftsmanns und Pflanzensammlers Alexander Caldcleugh lebten vor Monteagudos Amtsübernahme 10 000 Spanier in Lima. Als dieser am 25. Juli 1822 aus dem Amt gejagt wurde, sollen es kaum mehr 600 gewesen sein. Unter den Exilierten befanden sich nebst dem Erzbischof auch der Bischof von Ayacucho, fünf hohe Audienz-Funktionäre und prominente Mitglieder des Consulado. Die Vertreibung der kommerziellen und finanziellen Elite schädigte die Wirtschaft in starkem Maße. Fachwissen und Investitionskapital gingen unwiederbringlich verloren. Die entstandene Lücke füllten britische Importeure und Exporteure, womit sich neue wirtschaftliche Abhängigkeiten abzeichneten. Die Zwangsmaßnahmen empörten überdies viele Angehörige der kreolischen Mittel- und Oberschichten, die mit den Deportierten durch familiäre, geschäftliche und freundschaftliche Beziehungen verbunden waren.
Gegen Jahresende befand sich das Protektorat in einer kritischen Lage. San Martín reagierte auf die zunehmenden Schwierigkeiten, indem er im Dezember 1821 ein Dekret zur Einberufung des ersten peruanischen Kongresses – eines Verfassungskongresses – unterzeichnete. Nichtsdestotrotz nahmen die allgemeine Unzufriedenheit und die Enttäuschung über seine Regierungsführung weiter zu. Bei der Limeñer Elite stieß die Wirtschafts- und Sozialpolitik auf offene Ablehnung. Die Bevorzugung auswärtiger Vertrauensleute bei der Ämterbesetzung schürte zusätzliche Ressentiments. Verschlimmernd wirkte sich die prekäre Finanzlage aus. San Martíns Regierung sah sich außerstande, die Truppen angemessen zu entlohnen, weshalb viele Soldaten desertierten. Nur mehr 600 Chilenen und eine noch geringere Anzahl an Soldaten aus der La-Plata-Region harrten in Peru aus. Angesichts des drohenden Staatsbankrotts richtete die Regierung eine Bank ein, die Papiergeld herausgab, was die finanzielle Situation aber nur mehr verschärfte. Um den ökonomischen Verpflichtungen nachzukommen, vergab das Protektorat Monopole, prägte Münzen und requirierte die Reichtümer der Kirche. Bald zirkulierten gefälschte Geldscheine, während Zwangseintreibungen und Monopolvergaben die Vermögenden empörten. Weil es trotz aller Bemühungen nach wie vor an finanziellen Mitteln fehlte, entsandte San Martín zwei Vertraute nach Großbritannien, um den ersten Auslandskredit in der Geschichte Perus aufzunehmen. Offiziell hatten die beiden Gesandten den Auftrag, in Europa ein Darlehen von 1,5 Millionen Pfund Sterling (6 Mio. Pesos) aufzunehmen, für die diplomatische Anerkennung Perus zu werben sowie Handels-, Freundschafts- und Bündnisverträge auszuhandeln. Insgeheim sollten sie außerdem eruieren, ob sich ein europäischer Prinz – wenn möglich katholischen Glaubens – bereitfände, als Monarch die Herrschaft in Peru zu übernehmen. Nach ihrer Ankunft in London im September 1822 handelten San Martíns Abgeordnete ein Darlehen über 1,2 Millionen £ mit einem britischen Kaufmann aus.
Das Ende des Protektorats
Zu Beginn des Jahres 1822 kam es zum Bruch zwischen dem Protektor und Vizeadmiral Cochrane. Weil die Zahlungen für seine Mannschaft ausblieben und er Meutereien befürchtete, beschlagnahmte Cochrane kurzerhand Gelder, die der peruanischen Regierung und Privatpersonen gehörten, und bezahlte damit seine Seeleute. San Martín erzwang darauf den Abzug des Schotten aus dem Hafen von Callao. Während Cochrane seine Kampagne gegen spanische Schiffe auf eigene Faust weiterführte, musste sich der Protektor um den Aufbau einer gesonderten peruanischen Flotte kümmern. Tatsächlich gelang es ihm, zunächst einige kleine Schiffe und später zwei spanische Fregatten zu erwerben. Unter widrigen Umständen entschloss sich San Martín zur Entsendung eines Befreiungsheeres, das die südlich von Lima gelegene Stadt Ica den Royalisten wieder entreißen sollte. Der Feldzug endete bereits im April 1822 in einem Debakel und beeinträchtigte den ohnehin schon angekratzten Ruf des Protektors weiter. Jedoch hielt sich der militärische Schaden in Grenzen. Denn am 24. Mai 1822 triumphierten »patriotische« Truppen in der Schlacht von Pichincha in der Nähe von Quito, womit sich ganz Ecuador der spanischen Herrschaft entledigte. Den Oberbefehl über die siegreichen Truppen hatte Antonio José de Sucre inne, einer der engsten Vertrauten Simón Bolívars. Am 16. Juni 1822 hielt Bolívar seinen Einzug in Quito, wo er die Eingliederung Ecuadors in die Republik Großkolumbien verkündete. Zugleich forderte der »Libertador« (»Befreier«) den Anschluss von Guayaquil, dem einzigen größeren Hafen für das Hochland von Quito. Die peruanischen Ansprüche auf das südecuadorianische Küstengebiet negierend, dekretierte er am 13. Juli 1822 die formelle Inkorporation Guayaquils in das großkolumbianische Territorium.
Während Bolívars Renommee ständig wuchs, wurde die Lage für San Martín immer prekärer. Seine Armee setzte sich hauptsächlich aus Sklaven und frisch rekrutierten Kräften zusammen. Weil die Soldaten nur unregelmäßig ihren mageren Sold erhielten, verkauften oder verpfändeten manche ihre Uniformen. Die undisziplinierte Soldateska, die sich an Überfällen und kleinkriminellen Delikten beteiligte, stellte eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung dar. Mitte 1822 musste Limas Stadtrat die Zahlungen seiner wichtigsten Verpflichtungen einstellen. Im September erhielten die Truppen nur noch zwei Drittel des ihnen zustehenden Soldes. Nicht besser erging es den Beamten, die schon seit Monaten nur die Hälfte ihrer Saläre bezogen. Obschon das Londoner Darlehen kurzfristige Linderung versprach, verblieb ein Schuldenberg. Denn das Protektorat hatte Schulden in der Höhe von 6,5 Millionen Pesos anerkannt, die es von den vizeköniglichen Vorgängerregierungen