Was die Indianerpolitik betrifft, folgte Bolívar weitgehend den Prinzipien des zeitgenössischen Liberalismus: Indianer sollten hispanisiert, Rangordnungen abgebaut und Gemeinschaftsland privatisiert werden. Mit seinen ersten Dekreten schuf der »Libertador« ein für alle Mal das Curaca-Amt und sämtliche adlige Privilegien ab. Er hob den Indianertribut auf, wiederholte die Verbote bezüglich indianischer Zwangsarbeiten und erklärte die Indianer zu Eigentümern des von ihnen bewohnten und bebauten Bodens. Ländereien, die sich im Kollektivbesitz der Dorfgemeinschaften befanden, sollten als privates, veräußerliches Eigentum an die Lokalbevölkerung verteilt und dadurch ein Stand unabhängiger Kleinbauern geschaffen werden. Freilich wurde die Bestimmung über den Weiterverkauf bald widerrufen, weil die Landempfänger Gefahr liefen, ihren eben erst erhaltenen Privatbesitz an benachbarte Hacienda-Besitzer zu verlieren. Aufgrund der chronischen staatlichen Finanznöte revidierten die Behörden auch die Anordnungen zur Abschaffung des Indianertributs. Sie führten 1826 den Tribut im Rahmen der ersten bedeutenden Steuerreform der Republikzeit unter der Bezeichnung Contribución de Indígenas y Castas wieder ein. Zugleich eliminierten sie die Binnenzölle und erhöhten als protektionistische Maßnahme die Außenhandelszölle. Allerdings führte der Versuch, die heimische Produktion durch hohe Schutzzölle zu fördern, nicht zum gewünschten Resultat und förderte nur den Schmuggel.
Insgesamt bewirkte Bolívars Diktatur kaum eine Änderung der weit auseinanderklaffenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Durch die Aufhebung kolonialzeitlicher Schutzgesetze verschärfte sich in manchen Fällen sogar die Lage. Vielen Indianern – nun offiziell als Indígenas (Indigene) bezeichnet – drohte der Verlust ihrer Äcker und Weiden und damit ihrer Existenzgrundlage. Zu der Abschaffung der Sklaverei konnte sich der »Befreier« nicht durchringen. Wegen des starken Drucks der Sklavenhalter wurden unter San Martín erlassene Gesetze gelockert oder sogar rückgängig gemacht. Am 14. Oktober 1825 ließ Bolívar eine neue Sklavenverordnung veröffentlichen, die unter anderem die Arbeitszeiten, die Versorgung und Verpflegung sowie die Körperstrafen regelte. Endgültig verboten wurden Einkerkerungen in vollständiger Isolation und der sogenannte Rabo de Zorra (»Füchsinnenschwanz«), eine Peitsche, die lebensgefährliche Verletzungen verursachen konnte. Obwohl sich die Sklavenhalter nicht immer an die gesetzlichen Auflagen hielten, so war doch eine Verbesserung gegenüber der Kolonialzeit feststellbar. Andererseits kam Bolívar den Sklavenbesitzern bei den Bestimmungen über etwaige Freilassungen entgegen. Ein Anrecht auf Freilassung hatten nur Sklaven, die über einen längeren Zeitraum Militärdienst geleistet hatten. Auf dem Lande lebende Schwarze, die über keine militärischen Ausmusterungsdokumente verfügten, sollten verhaftet werden. Zudem wurde den Sklaven der Besitz von Waffen, Macheten, Äxten oder Messern verboten. Ein Gesetz vom November 1825 besagte, dass nur Sklaven, die vor dem 5. November 1824 rekrutiert worden waren und noch immer Dienst leisteten sowie Kriegsinvalide ein Recht auf Freiheit hatten. Alle anderen sollten an ihre Herren zurückgeschickt werden.
Die Wirtschaft der Übergangszeit
Die langen Kriegsjahre forderten nicht nur einen hohen Blutzoll, sondern sie wirkten sich auch katastrophal auf die Wirtschaft aus. Als letztes Bollwerk des spanischen Imperiums hatte Peru seit 1810 die Kriege gegen die separatistischen Kräfte in Südamerika mitfinanziert. Von 1820 bis1824 musste das Land für zwei große Armeen aufkommen und die Kosten für deren Ausrüstung, Unterbringung, Verproviantierung und Besoldung bestreiten. Lima wurde mehrmals angegriffen, besetzt und geplündert. Belagerungen und Blockaden führten zu Versorgungsengpässen, Hunger und Epidemien. In diesen 15 Kriegsjahren trieb die Inflation die Preise in die Höhe, während das Land finanziell ausblutete.
Die Unabhängigkeitskämpfe beeinträchtigten die allgemeine Sicherheits- wie die Versorgungslage. Sie zogen sowohl den Binnenhandel als auch den Bergbau schwer in Mitleidenschaft. Tragtiere, Eisengeräte, Quecksilber und Schießpulver – in den Minen häufig zum Sprengen verwendet – wurden zur Mangelware. Zudem entzogen die massiven Truppenaushebungen dem ohnehin unter chronischem Arbeitermangel leidenden Bergbau die Arbeitskräfte. Im zentralen Hochland, das sechs militärische Kampagnen, zwei manövrierende Heere und zahlreiche Freischärlertruppen zu ertragen hatte, kamen der Bergbau sowie die land- und viehwirtschaftliche Produktion zum Erliegen. Perus Silberproduktion fiel von 109 597 kg im Jahr 1820 auf ein Tief von 8696 kg im Jahr 1823 – das ist ein Rückgang um fast das Dreizehnfache.
Unter den direkten Kriegsfolgen (Zerstörungen, Verwüstungen, Zwangsabgaben, Repressalien) und den indirekten (Arbeitskräftemangel, Unterbrechungen der Transportwege) litten sowohl die Kleinbauern als auch die landwirtschaftlichen Großbetriebe. Royalistische wie »patriotische« Truppen beraubten wahllos die Dörfer und rekrutierten zugleich unter Drohungen Hilfskräfte und Träger. Wenn die gegnerischen Truppen in solch ausgeplünderte Gebiete vordrangen, warfen sie den Dorfbewohnern Kollaboration mit dem Feind vor und ergriffen Retorsionsmaßnahmen. Haciendas wurden zerstört, die Pflanzungen und Viehbestände vernichtet. An der Küste flohen viele Plantagen-Sklaven oder schlossen sich den kämpfenden Truppen an. Ihrer Arbeitskräfte beraubt, fielen die exportorientierten Großbetriebe auf das Subsistenzniveau zurück. Gegen Kriegsende musste Peru sogar Zucker, seinen einstigen Exportschlager, importieren.
Für die Großkaufleute in Lima hatte die Unterstützung der royalistischen Seite nicht nur ruinöse Geldüberweisungen zur Folge. Die Handelsschiffe des Consulado, welche die spanische Kriegsflotte aktiv unterstützten, wurden entweder zerstört oder von den »Patrioten« geentert und übernommen. Dies wiederum ermöglichte die Formierung einer chilenischen Handelsflotte, womit Lima, dessen Hafen zu einem großen Teil zerstört war, auch die Hegemonie im südlichen Pazifik einbüßte. Der Consulado selbst wurde durch eine Handelskammer ersetzt. Diese versorgte alsbald – wie ihr kolonialzeitlicher Vorgänger – die republikanischen Regierungen bei Liquiditätsproblemen mit Geld.
Im Übersee- und Fernhandel lösten ausländische Händler die Spanier ab. Insbesondere die Briten wussten Perus Notlage geschickt auszunutzen und versorgten die »patriotischen« Regierungen mit dringend benötigten Gütern. Gemäß den Abrechnungen der britischen Konsuln verfrachtete man zwischen 1819 und 1822 Edelmetall im Wert von 26,9 Millionen Pfund Sterling (107,6 Millionen Pesos) auf britische Kriegsschiffe. Ein Teil davon diente zur Bezahlung der importierten Konsumgüter und von Kriegsmaterial; der Rest floss als Fluchtkapital in sichere Länder ab. Um 1824 unterhielt Großbritannien 36 Handelshäuser in Peru – mit Abstand am meisten in Lima, gefolgt von Arequipa. Peru importierte Mitte der 1820er-Jahre ausländische Waren im Wert von 4 bis 5 Millionen Pesos. Britische Kaufleute lieferten Feintextilien, Haushalts- und Eisenwaren im Wert von geschätzten 1,5 Millionen Pesos aus. Kaufleute aus den USA führten Mehl, Baumwolle und Sonstiges im Wert von 1,2 bis 2 Millionen Pesos aus und Franzosen setzten für etwa 800 000 Pesos Luxuskleider, Weine, handwerkliche und gewerbliche Produkte ab. Die Öffnung des peruanischen Marktes für neue Handelspartner zog einen radikalen Fall der Importkosten nach sich, brachte die Preise ins Wanken und stürzte die lokalen Produzenten in die Krise. Durch notwendige Zugeständnisse an die internationalen Handelspartner ergaben sich neue Abhängigkeitsverhältnisse. Peru wurde dadurch zwar nicht unmittelbar politisch, sehr wohl aber wirtschaftlich von ausländischen Großmächten abhängig. Die Handlungsfreiheit, die das Land während der Kolonialzeit immer vermisst hatte, stellte sich damit freilich nicht ein.
Das kontinuierlich wachsende Handelsbilanzdefizit und die Kapitalflucht verschärften den Mangel an Investitionskapital, das zum Wiederaufbau dringend notwendig gewesen wäre. Zwar gelang der peruanischen Regierung im Januar 1825 die Aufnahme eines zweiten englischen Darlehens in Höhe von 616 000 £. Doch musste sie die beiden Darlehen hauptsächlich zur Begleichung ausstehender Verpflichtungen gegenüber britischen Händlern sowie zur Finanzierung von Militär und Flotte aufwenden. Für Investitionen in Entwicklungsprojekte blieb kaum mehr etwas übrig. Fieberhaft suchte Bolívar nach neuen Einnahmequellen und Investoren. In einem Brief vom Oktober 1825 gab er den Verkauf von peruanischen Minen im Wert von 2,5 Millionen Pesos an ausländische Interessenten bekannt. Zudem habe er vorgeschlagen, dass die peruanische Regierung sämtliche Minen sowie staatliche Ländereien, Besitztümer und sonstige Vermögenswerte an England verkaufen solle. Damit könnten die Schulden, die mindestens 20 Millionen Pesos betrügen, beglichen werden.
Offenbar war