Aber bei dieser mitleidsvollen Liebe muß sich der Hirte so betragen, daß seine Untergebenen kein Bedenken tragen, ihm auch ihre geheimen Fehler anzuvertrauen, sondern wie zum Mutterherzen sollen die noch Schwachen, wenn sie den Sturm der Versuchung erleiden, zu seinem Herzen eilen und durch seine Ermahnung aufgerichtet mit Gebetsthränen hinwegwaschen, womit sie sich in Folge des Reizes der Sünde befleckt fühlen. Deßhalb befand sich vor der Tempelpforte das eherne Meer, d. h. das Waschbecken zur Handwaschung für die Eintretenden, von zwölf Rindern getragen, deren Kopf nach aussen sichtbar war, ihr Rücktheil aber verborgen. Denn was bedeuten diese zwölf Rinder als die Gesammtheit der Hirten? Von diesen sagt das Gesetz, wie Paulus anführt: „Du sollst dem dreschenden Ochsen das Maul nicht verbinden." 56Wir sehen von ihnen ihre äusseren Werke, aber es ist uns verborgen, was sie im geheimen Gerichte vor dem strengen Richter später erwartet. Wenn sie nun ihre herablassende Geduld den Bekenntnissen und der Tilgung der Sünden ihrer Mitmenschen zuwenden, — dann tragen sie gleichsam das Waschbecken vor der Tempelpforte, damit Jeder, der zur Pforte des ewigen Lebens eingehen will, dem Herzen des Hirten seine Versuchungen offenbaren und gleichsam in dem von Rindern getragenen Waschbecken von den Sünden in Gedanken oder Werken sich reinigen könne. Dabei kommt es nicht selten vor, daß auch des Hirten Seele durch dieselben Versuchungen belästigt wird, die er von Andern, um ihnen zu helfen, gehört hat; denn natürlich wird das Wasser des Beckens durch denselben Schmutz verunreinigt, den es an der Volksmenge getilgt hat, indem es den Schmutz Aller, die sich waschen, in sich aufnimmt, verliert es den Glanz der eigenen Reinheit. Aber davor darf der Hirte keine Scheu haben, — denn vor Gott, der Alles genau abwägt, entgeht er um so leichter der eigenen Versuchung, mit je größerer Barmherzigkeit er sich wegen einer fremden Versuchung abgemüht hat.57
Wenn ich sodann erwäge, wie beschaffen der Seelenführrer sein müsse in Bezug auf Demuth und Strenge, so finde ich, daß er für die Rechtschaffenen ein demüthiger Bundesgenosse sein, den Lastern der Gottlosen aber mit eifernder Gerechtigkeit gegenüber stehen müsse. Den Guten soll er sich in Nichts vorziehen; wenn es aber die Sünde der Bösen erfordert, soll er sich der Gewalt seines Vorsteheramtes erinnern. Gegen die gut gesinnten Untergebenen zeige er sich ohne Rücksicht auf seine Würde als gleichgestellt, gegen die Fehler der Bösen erhebe er sich mit dem Eifer der Gerechtigkeit. Darum wollte Petrus, der nach Gottes Anordnung den obersten Rang in der hl. Kirche einnimmt, von dem rechtschaffenen Cornelius, der sich demüthig vor ihm niederwarf, keine übertriebene Ehrenbezeugung und erkannte ihn als Bruder an, indem er sprach: „Stehe auf, thue das nicht, auch ich bin ein Mensch.“58Als er aber den Ananias und die Saphira schuldig sah, zeigte er sogleich, wie weit er an Macht alle Andern überrage. Mit einem Worte raubte er ihnen das Leben, welches er durch Erleuchtung des hl. Geistes als schuldbar erkannt hatte; er erinnerte sich, daß er in der Kirche oberster Richter der Sünder sei, wovon er bei den rechtschaffenen Mitbrüdern Nichts zu wissen schien, obgleich ihm überreichlich Ehre erwiesen wurde. Hier verdiente die Heiligkeit der Handlungsweise gleichheitliche Betheiligung, dort erforderte der Eifer für die Gerechtigkeit Ausübung der Amtsgewalt. Deßhalb wußte Paulus Nichts von einem Vorzug vor wohlgesinnten Brüdern, da er sprach: „Wir wollen nicht Herrschaft ausüben über euern Glauben, sondern Mitbeförderer eurer Freude sein.”59Er fügt bei: „Denn ihr stehet fest im Glauben," gleich als wollte er seine Worte erklären und sagen: Deßhalb üben wir keine Herrschaft über euern Glauben, weil ihr ohnehin schon fest in demselben begründet seid. Wir sind euch gleich, weil wir euch darin fest begründet sehen. Als ob er Nichts von einem Vorzug wisse, sagt er: „Wir sind klein geworden in eurer Mitte“60und anderswo: „Wir sind eure Diener durch Christus.”61Da er aber eine Schuld zu tadeln findet, erinnert er sich, daß er Lehrer ist, und spricht: „Was wollt ihr, soll ich mit der Ruthe zu Euch kommen?"62Das höchste Regierungsamt wird also dann gut verwaltet, wenn der Vorsteher mehr über die Fehler als über die Brüder Herrschaft ausübt. Derjenige übt die empfangene Gewalt in rechter Weife aus, der sie sowohl zu handhaben als auch im Zaume zu halten weiß. Der übt sie in rechter Weise, der es versteht, kraft derselben sich gegen die Sünder zu erheben, der es aber auch versteht, trotz derselben sich Andern gleichzustellen.
Die Tugend der Demuth ist aber so zu üben, daß die Amtsrechte dadurch nicht preisgegeben werben; denn wenn der Vorgesetzte mehr als geziemend sich vergibt, so kann er das Leben seiner Untergebenen nicht mehr in den Schranken der Zucht halten. Und so ist die Strenge der Zucht aufrecht zu erhalten, daß die Sanftmuth dabei sich nicht verliere, während der Eifer über Gebühr entflammt. Oft geben sich ia Laster für Tugenden aus; so will der Geiz als Sparsamkeit, die Verschwendung als Freigebigkeit, die Grausamkeit als Gerechtigkeitseifer, die Schwäche als Mitleid erscheinen. Strenge und Milde also sind verkehrt, so oft die eine ohne die andere ausgeübt wird, sondern mit großer Unterscheidungskunst muß sowohl die gerecht verfahrende Barmherzigkeit als auch die mild strafende Strenge angewendet werden. Dieß lehrt die ewige Wahrheit durch die Sorgfalt des Samariters, der den Halbtodten in die Herberge führt und ÖI und Wein in seine Wunden gießt. Denn der Wein sollte die Wunden schmerzhaft reinigen, das Öl lindern. So muß, wer das Amt hat, Wunden zu heilen, durch den Wein Schmerz erregen, durch das Öl aber mitleidige Linderung bringen, damit der Wein die Unreinigkeit entferne, das Öl aber die Heilung durch Schmerzeslinderung vorbereite. Es herrsche also Liebe, aber keine Schlaffheit, es herrsche Kraft, aber keine Härte. Dieß deutete die Bundeslade im hl. Zelte an, in welcher sich zugleich mit den Gesetztafeln auch der Stab Aarons und Manna befand; denn in dem Herzen des guten Seelenführers muß sich mit der Kenntnis der hl. Schrift zugleich auch der Stab der Strenge und das Manna der Milde befinden.
Wenn ich nun, nachdem ich die Last des Hirtenamtes auf mich genommen, alles Dieß und noch viel Anderes dieser Art erwäge, so scheine ich zu sein, was ich in Wirklichkfeit nicht sein kann, besonders weil jeder Inhaber dieses Stuhles sich sehr viel mit irdischen Sorgen zu beschäftigen hat, so daß man oft zweifeln möchte, ob er ein Hirtenamt oder ein weltliches