Als ich verlor, was ich niemals war. Matthias Dhammavaro Jordan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Dhammavaro Jordan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783866164956
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nicht die Frage im Vordergrund: Gibt es ein Leben nach dem Tod?, sondern: Was für ein Leben führe ich vor dem Tod?

      Santikaro kam nicht mehr darum herum, etwas dazu zu sagen: „Wiedergeburt ist etwas, was du jeden Tag mehrmals erlebst. Es ist die Geburt in einen Bewusstseinszustand hinein. Immer wenn du Kontakt mit der Außenwelt hast, entsteht ein Gefühl des Mögens oder Nicht-Mögens, dann willst du dieses ‚Ding‘ oder du willst es nicht. Dann machst du eine gewisse Anstrengung, auf dieses Ding zuzugehen oder von ihm weg. Das bestimmt in diesem einen Moment dein Leben, deine Existenz, und dementsprechend fühlst du dich. Auf Grund der Gefühle entstehen deine Wünsche. Sobald du an ihnen anhaftest, kommst du ins Handeln, um sie dir zu erfüllen, und du wirst so in einen bestimmten Bewusstseinszustand hineingeboren. Das kann an einem Tag mehrere hundert Mal passieren.“

      Ja, das hatte ich doch gerade erlebt. Bekam ich jetzt nicht die Theorie nachgeliefert für das Erlebnis, das ich da hatte? Die Geburt eines Engels und der Tod eines Engels, die Geburt eines blöden Franzosen und der Tod desselben. Aber das alles geschah doch nur in mir. Ich war als der ‚Verliebte‘ geboren und durch das, was ich dann hörte, ‚starb‘ der Verliebte wieder. Und immer wenn ein Gefühl entsteht, wird man in diesen Zustand ‚geboren‘. Das leuchtete mir ein.

      Ich war begeistert, wie klar das plötzlich für mich war, und begann von nun an, alle diese Gefühlszustände als eine neue Geburt zu sehen, mit der Gewissheit, dass diese Zustände auch wieder ‚sterben‘ mussten.

      Jede Freude, jeder Ärger, jede Eifersucht, die Schmerzen in den Beinen, Gedanken, Gefühle und das Essen, was ich oben reinschob, plumpste es nicht kurze Zeit später unten wieder heraus? All das entstand, verweilte und verging auch wieder.

      Wenn das nicht eine tiefe Erkenntnis war, dachte ich, die mich der Erleuchtung einige Schritte näherbrachte?!

      Die Tage vergingen in diesem Rhythmus und ich begann mich daran zu gewöhnen, morgens um vier Uhr aufzustehen, zum Frühstück Reis und Gemüse zu essen, zu schweigen, zu meditieren und zu beobachten, was da so durch meinen Geist zog.

      Der letzte Tag war angebrochen und heute würde uns Ajahn Buddhadasa zum Abschied einen Vortrag halten. Nach dem Frühstück versammelten wir uns am Hin Kong, dem Steinkreis.

      Große Steine, auf denen man sitzen konnte, waren dort in einem Kreis angeordnet, drumherum wuchsen große Bäume, alles auf sandigem Boden. Am oberen Ende stand eine Holzplattform, die aus einer großen Baumwurzel herausgearbeitet war und auf der der jeweilige Mönch saß, der einen Vortrag hielt. Das war hier so Brauch.

      Ajahn Buddhadasa war schon achtzig Jahre alt, hatte einen rundlichen Körper, war gekleidet in die bei buddhistischen Mönchen übliche orangefarbene Robe und er näherte sich langsam der Plattform, gestützt auf einen hölzernen Gehstock, und nahm Platz.

      Er hatte eine klare, sehr gesammelte und ruhige Ausstrahlung, und während ich das hier schreibe, weiß ich, dass ich es eh nicht mit Worten einfangen kann, wie ich ihn erlebte. Aber ich fühlte plötzlich eine tiefe Verbundenheit zu diesem Mann. Nein, er war mir nicht fremd, alles hier war mir nicht fremd, und wie ich schon gesagt habe: Es fühlte sich an, als ob ich zuhause angekommen sei. Ich war selbst sehr erstaunt darüber.

      Wir saßen auf Bastmatten auf dem Boden und waren angehalten, uns dreimal zu verbeugen, auch das war hier so Brauch.

      Er begann auf Thai zu sprechen und Santikaro übersetzte: „Liebe Freunde im Dhamma. Ihr seid aus vielen Ländern der Welt gekommen und reist von einem Ort zum anderen – um was zu finden? Ihr alle sucht Freude, Glück und Erfüllung und versucht es irgendwo da draußen zu bekommen. Dann merkt ihr irgendwann, dass es da nichts zu holen gibt, und reist dann weiter in der Hoffnung, euer Glück und eure Erfüllung woanders zu finden.

      Schließlich seid ihr hier in Suan Mokkh gelandet und habt nun diese Tage erlebt. Ich hoffe, ihr habt etwas inneren Frieden gefunden, habt vielleicht erkannt, dass Leiden und Unzufriedenheit immer dann entstehen, wenn wir an etwas anhaften und festhalten wollen. Alles, was es gibt, hat drei universelle Merkmale: Es ist unbeständig. Wenn wir daran festhalten, entsteht Leid, und alle Dinge, auch wir Menschen, haben keinen Selbstbestand oder Wesenskern. Da gibt es kein ‚Ich‘ oder ‚Mein‘, das sich nie ändert.“

      Er sprach noch eine Weile in dieser ruhigen, freundlichen und sicheren Klarheit und verabschiedete uns mit seinen besten Wünschen.

      Nein, ich musste nicht alles verstehen, was ich da hörte, aber ich fühlte plötzlich dieses tiefe Vertrauen zu diesem Mann. Er bestand darauf, dass man nichts glauben solle, bezeichnete sich selbst nicht als Lehrer, sondern als Kalyanamitta, was so viel wie ‚spiritueller Freund‘ bedeutet. Wenn man etwas nicht verstehen würde, riet er an, dann solle man es nicht gleich wegwerfen, sondern zur Seite legen und es irgendwann wieder hervorholen und kontemplieren. All das kam mir sehr entgegen.

      Später hatte ich einen Traum, in dem er vorkam, welcher die Haltung symbolisiert, die er als spiritueller Freund einnahm: Ich träumte, dass wir gemeinsam einen Hügel hinaufgehen und oben angekommen, werde ich von einem unglaublichen Glücksgefühl durchflutet. Ich strecke meine Arme nach oben aus und helle Lichtstrahlen und Blitze strömen rechts und links von den Bäumen in meine Hände, in meinen Körper und laden mich mit diesem unglaublichen Glücksgefühl auf und ich fühle mich mit dem ganzen Universum verbunden. Als dieses Strahlen vorbeigeht, bin ich erfüllt von tiefer Dankbarkeit und großer Freude. Ajahn Buddhadasa steht ein paar Meter vor mir und ich gehe auf ihn zu, will ihn umarmen und mich bedanken. Er aber hält eine Hand hoch und sagt nur: „Ich habe nichts damit zu tun!“

      Die zehn Tage waren vorbei und das Schweigen wurde ‚gebrochen‘.

      Es war seltsam, dass ich das Gefühl hatte, viele der Teilnehmer gut kennengelernt zu haben, obwohl ich mit den meisten nie gesprochen hatte. Ich bedankte mich bei Santikaro, bei Ajahn Ranschuan, gab eine Spende ab, verabschiedete mich von dem ‚Engel‘, der nun ein ganz normaler Mensch war, von dem ‚blöden Franzosen‘, den ich wiedertreffen sollte, Jean war sein Name und wir wurden später Freunde.

      Der Bus würde bald nach Surat Thani abfahren.

      Ich war bei mir, fühlte mich sehr gesammelt, mir fielen Dinge auf, die ich sonst nie beachtet hätte: ein Kieselstein am Wegesrand, ein Blatt im Wind, die bunten Farben der exotischen Blumen, Gedanken, Gefühle. Nichts störte mich, weder der Lärm der anfahrenden Mopeds noch die längere Wartezeit später an der Fähre. Ich hatte keine Eile, irgendwo hinzukommen, und doch war ich gespannt darauf, Anna wiederzusehen.

      Auf der Fähre angekommen, legte ich mich auf meinen Platz und ohne, dass ich es wollte, kamen plötzlich die Bilder unserer ersten Begegnung in meinen Sinn.

      Anna

      Sie war damals gerade von München nach Berlin gezogen, um zu studieren. Eines Nachts hatte Anna ihren Wohnungsschlüssel vergessen und ihre Gastgeberin hatte ihr Klingeln nicht gehört. So machte sie sich auf ins Pressecafé am Zoo, wo man um diese Zeit schon frühstücken konnte.

      An diesem frühen Morgen kam ich gerade von einer Party aus Spandau nach Hause. Müde war ich noch nicht und im Hinterhof brannte in Burkhards Wohnung noch Licht. Ich war hocherfreut, lud ihn zum Frühstücken ein und wir machten uns auf den Weg ins Pressecafé.

      Dort angekommen, setzten wir uns an einen der Tische am Fenster und konnten so dem noch spärlichen Treiben auf den Straßen zuschauen. Wir waren gut drauf, lachten und scherzten, und zu erzählen gab es mit Burkhard immer etwas. Er gehörte in Berlin zu meinen besten Freunden. Die junge, hübsche, blonde Frau am Nachbartisch war uns nicht entgangen, auch nicht, dass sie da ganz alleine saß. Wir waren beide nicht wenig überrascht, als sie plötzlich zu uns rüberkam und fragte, ob sie sich zu uns setzen könne. Na klar doch, sehr gerne.

      Dann die üblichen Fragen: Woher kommt ihr, was macht ihr, was machst du?, und wir legten los, uns darzustellen. Erzählten von unseren Drogengeschäften, dem Etablissement, in dem Frauen für uns arbeiteten, kleine Waffengeschäfte nebenbei – Anna glaubte nichts davon, mit