Aber auch wenn ihr den Glauben an das Selbstbild sehen könnt, werdet ihr nicht frei von ihm sein, weil ihr auf der emotionalen Ebene wißt, daß das ein Selbstbild ist, weil ihr es mit etwas anderem, einem anderen Selbstbild verglichen habt. Was ist häßlich? Was ist schön? Ihr habt euren Maßstab von Schönheit, und nach diesem Maßstab seid ihr nicht schön. Euer Über-Ich sagt euch, daß eine schöne Frau eine Frau mit einer schmalen Nase ist, und so ist es eben. Wenn viele Menschen euch sagen, daß eure Nase schön ist, werdet ihr euch vielleicht nicht für so häßlich halten. Aber immer wenn es euch schlecht mit euch geht, erinnert ihr euch an diese Nase. Wenn jemand euch ablehnt, seid ihr sicher, daß es an eurer Nase liegt. Das Verständnis, das euch von diesem Selbstbild befreit, kommt von einem Ort, der nicht auf der emotionalen Ebene liegt. Ein gewisses Verständnis ist nötig, um diesen Glauben an ein Selbstbild auszuschalten. Dieses Wissen besteht darin, daß ihr letzlich nicht das Selbstbild, nicht ein Konzept oder Begriff seid; ihr seid etwas anderes. Und eure Nase – kurz oder groß, wie immer sie ist – hat nichts damit zu tun, wer ihr seid.
Das, worüber ich eben gesprochen habe, steht in allen Büchern, in denen es um das Thema „Selbstbild“ geht. Buddha sagt: „Ihr seid nicht euer Selbstbild.“ „Wunderbar“, denkt ihr, „das ist wahr, ich bin nicht mein Selbstbild. Meine große Nase hat also wirklich nicht viel damit tun, wer ich bin. Gut. Von jetzt an denke ich nicht mehr an meine Nase!“ Zwei Stunden lang denkt ihr nicht daran. Wenn euch dann jemand anschaut, ist das einzige, woran ihr denken könnt: „ Mein Gott, er denkt, meine Nase sei zu groß!“ Dieser Mensch ist vielleicht in euch verliebt und hält euch für schön, aber ihr könnt nur an eure Nase denken. Es spielt also keine Rolle, was ihr lest oder was Buddha sagt oder was irgend jemand sagt, wenn ihr nicht das Verständnis habt, daß die Beschäftigung mit eurem Selbstbild aufhebt. Das wirkliche Verstehen ist etwas, das ihr nicht von außen bekommen könnt. Niemand kann es euch geben.
Hier ist Essenz wertvoll; sie gibt euch das Wissen und Verstehen, das euch niemand sonst geben kann. Wenn ihr das Thema „Selbstbild“ gründlich erforscht, gelangt ihr zu dem essentiellen Aspekt, der dem Selbstbild entspricht. Wenn das geschieht, werdet ihr Essenz auf eine Art und Weise erfahren, die kein Selbstbild hat; statt eines Selbstbildes werden Raum, Offenheit und innere Geräumigkeit dasein. Das ist der essentielle Aspekt, der verlorenging, als ihr ein Selbstbild entwickelt habt und anfingt zu glauben, daß das Selbstbild das ist, was ihr wirklich seid. Das Selbstbild hat immer eine Grenze – physisch, emotional oder begrifflich. Wenn ihr Raum erfahrt, erfahrt ihr euch als Sein ohne Grenzen, ohne Definition, einfach als Offenheit.
Dieser essentielle Aspekt ist selbst das Wissen, ist selbst die Einsicht, daß ihr nicht wirklich euer Selbstbild seid. Aber bevor es soweit ist, daß ihr euch ohne Selbstbild erfahren könnt, könnt ihr gar nicht wissen, daß so eine Möglichkeit existiert, und werdet euch selbst weiter so sehen, wie es euer Selbstbild vorgibt.
Wir sehen, daß das Wissen, das letztlich gebraucht wird, um dieses psychologische Problem zu lösen, Essenz ist. Auf der emotionalen Ebene kann es nicht gelöst werden. Auf dieser Ebene fehlt ein Stück des Puzzles, und dieses fehlende Stück ist Essenz. Der essentielle Aspekt ist das, was das für dieses Thema notwendige Wissen bringen wird, und er wird auch seine Lösung sein.
Dies ist für die meisten von euch nicht neu; es ist das, was wir die „Theorie der Löcher“ nennen. Ich erkläre es noch einmal, aus der Perspektive von „Selbstbild“ und „Raum“, damit wir es besser verstehen. Aber dieses Verstehen ist noch nicht implizites Verstehen. Um zu verstehen, was implizites Verstehen ausmacht, müssen wir über ein anderes psychologisches Thema sprechen, daß ihr nämlich Liebe wollt, oder geliebt werden wollt. Wie beim Thema des Selbstbildes beobachtet ihr euch selbst, eure Handlungen, euer Leben, und ihr entdeckt, daß ihr ein Bedürfnis nach Liebe habt. Ihr seht eure Muster, eure Methoden, mit denen ihr versucht, Liebe zu bekommen, die Manipulationen, die eure Persönlichkeit entwikkelt hat, um diese Liebe auf die eine oder andere Weise zu bekommen – dadurch daß ihr eine braves Mädchen, ein starker Junge seid oder was immer. Hinter all dem findet ihr dann, daß ihr Liebe wollt, weil eure Mutter euch nicht geliebt hat. So weit, so gut; es macht die Dinge deutlicher. Ihr habt ein gewisses wahres Verständnis der Situation. Ihr wißt, warum ihr euch ungeliebt fühlt und warum ihr Liebe wollt.
Wenn ihr weiter eure Gefühle um das Thema „Liebe“ herum beobachtet und untersucht, werdet ihr einen bestimmten Mangel entdecken. Ihr werdet finden, daß das Bedürfnis nach Liebe ein Ausdruck eines Teils von euch ist, der sich bedürftig und leer fühlt. Er möchte dauernd von außen gefüllt werden. Wenn ihr bei diesem Bedürfnis bleibt und zulaßt, daß ihr das Begehren nach Liebe tief fühlt, dann werdet ihr den Mangel, das Loch der Liebe fühlen, und ihr werdet das Loch als das Ergebnis des Verlustes eurer eigenen Liebe in eurer Kindheit fühlen. Das wird die Verletzung ans Licht bringen, nicht geliebt zu sein, diese tiefe Wunde. Wenn ihr euch erlaubt, diese Wunde ganz zu erfahren, wird sie wie ein Brunnen sein, ein Brunnen, aus dem Liebe fließt. Ihr werdet den Aspekt von Essenz erfahren, der Liebe ist. Dies war das fehlende Stück, das mit dem Thema „Liebe“ zu tun hatte. Jetzt habt ihr Liebe – nicht von außen, sondern aus eurer eigenen Essenz. Die Erfahrung dieses essentiellen Aspektes der Liebe löscht das Bedürfnis aus, diese Leere von außen zu füllen, genauso wie Raum oder Leere das Thema um das Selbstbild herum gelöst hatte.
Diese Erfahrung reicht jedoch nicht aus, um das Thema ganz zu lösen. Viele von euch sind sich dessen bewußt. Die Sehnsucht nach Liebe und die Manipulationen um sie werden vielleicht subtiler, aber sie verschwinden nicht. Das ist deshalb so, weil ihr das implizite Verstehen nicht habt. Ihr seid an eure Erfahrung von Liebe oder Raum oder irgendeines anderen Aspektes – Willen, Mitgefühl, Lust – nicht aus der Perspektive impliziten Verstehens herangegangen. Ihr erfahrt essentielle Liebe, die süß, intensiv und erfüllend ist, und sagt: „Dieses süße Liebesgefühl ist das Wunderbarste, was ich je gefühlt habe. Wenn es weggeht, habe ich es nicht mehr. Ich will es für immer festhalten.“
Wer redet hier? Was habt ihr gelernt? Ihr habt eine Erfahrung von Liebe gehabt, aber diese Liebe hat euch nicht transformiert. Ihr habt sie genauso behandelt wie irgendein anderes Objekt, das eure Persönlichkeit haben will. „Wenn ich diese ganze wunderbare Liebe habe, dann werden die Menschen sehen, wie strahlend und liebevoll ich bin und sie werden denken, daß ich toll bin, und sie werden sich in mich verlieben, und ich werde dann allezeit glücklich sein.“ Nichts hat sich verändert. Was ihr von außen haben wolltet, wollt ihr jetzt von innen haben, um es von außen bekommen zu können!
Das ist nicht implizites Verstehen. Das ist Materialismus. Früher wolltet ihr Materielles im Außen, jetzt wollt ihr es im Innen. Es ist dasselbe, alles ist materiell. Früher wolltet ihr Geld anhäufen, Kleider, Liebhaber; jetzt wollt ihr essentielle Aspekte sammeln: Liebe, Freude, Willen, Stärke. „Schaut, was ich für wunderbare Dinge habe! Jetzt kann ich losziehen und sie meiner Mama zeigen, und endlich wird sie sehen, wer ich bin, und sie wird mich wirklich lieben müssen, und dann bin ich glücklich.“ Es ist dasselbe. In Wirklichkeit sind wir nicht weitergekommen. Wir sind da, wo wir angefangen haben.
Was ist also das weitere Verstehen, das nötig ist? Wir haben gesehen, daß die Erfahrung von Essenz zu einem Verstehen führt, das auf der emotionalen Ebene nicht erreichbar ist. Wenn die meisten Menschen ihre Essenz erfahren, behandeln sie sie jedoch wie etwas auf der emotionalen Ebene: einen Besitz, ein Ding, etwas Schönes. Das ist die grundlegende Eigenart der Persönlichkeit: Sie hat zu Dingen eine Beziehung, die von Gier geleitet sind. Es ist diese Tendenz der Persönlichkeit, nach Lust zu greifen, auch nach den tiefen Befriedigungen von Essenz, die überhaupt zu den ganzen Verlusten geführt hat. Diese Neigung der Persönlichkeit erzeugt das, was sie gut erzeugen kann – Elend. Bis sich diese Tendenz auflöst, wird eure Haltung der Essenz gegenüber dieselbe sein wie materiellen Gütern gegenüber. Eure Identität beruht immer noch auf der Persönlichkeit, auf Gier, auf Leiden.
Ihr fragt euch, was ihr tun müßt, um dieses Verstehen und die Freiheit von der Persönlichkeit zu erlangen. „Sag mir, sag mir doch, was das ist! Dann kann ich es tun – und glücklich sein!“ Seht ihr, wie diese Neigung am Werk ist? Das Verstehen ist nicht da, ganz zu schweigen von implizitem Verstehen.
Ihr könnt aber eine andere Haltung eurer Erfahrung gegenüber entwickeln.