Pergamente und Papyri. Hans Johan Sagrusten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Johan Sagrusten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783438072429
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Auf der Suche nach fehlenden Sätzen wird schnell eine große Abweichung erkennbar: Es hat den Anschein, als habe die Erzählung über die beim Ehebruch ertappte Frau (Joh 7,53–8,11) nicht im Manuskript gestanden. Zwar fehlen in diesem Teil des Johannesevangeliums zwei komplette Bögen, doch wenn man den Platz berechnet, der auf diesen zwei Bögen vorhanden ist, stellt man fest, dass die Erzählung nicht dort gestanden haben kann. Der Codex Ephraemi Rescriptus belegt also, dass diese Erzählung um das Jahr 400 n.Chr. nicht immer Teil der Manuskripte gewesen ist. Diesem Thema ist an anderer Stelle dieses Buches ein komplettes Kapitel gewidmet.

      Daneben fehlt in den ältesten Manuskripten oftmals auch ein anderer langer Abschnitt: das Ende des Markusevangeliums, Mk 16,9–20. Fehlt dieser Abschnitt auch hier? Nein, dieser scheint Teil des Codex Ephraemi Rescriptus gewesen zu sein. Auch hier ist das zwar nicht direkt ersichtlich, denn auch am Ende des Markusevangeliums fehlen einige Bögen. Man kann jedoch ausrechnen, dass die Verse 9–20 Teil des Textes gewesen sein müssen.

      Bei dem Versuch, den verborgenen Text deutlicher hervortreten zu lassen, setzte Ferdinand Florian Fleck in den Jahren 1834/35 Chemikalien ein. Es gelang ihm jedoch nicht die Schrift zu deuten, vielmehr hinterließ die Vorgehensweise Flecken auf dem Pergament. Den gleichen Versuch unternahm der legendäre Konstantin von Tischendorf (1815–1874). Er war gerade einmal 26 Jahre alt, als er 1841 die große Leistung vollbrachte, das komplette Manuskript zu entziffern und zu transkribieren. Auch er setzte Chemikalien ein, um die verborgene Schrift, die sich dort, tief unten in den Fasern des alten Pergaments verbarg, sichtbar zu machen.

      Tischendorf publizierte den Text des Neuen Testaments 1843 und den des Alten Testaments 1845. Aufgrund all der verwendeten Chemikalien ist es heute noch schwerer als damals, die Schrift zu deuten. Heute benötigt man Ultraviolettfotografie, um den darunterliegenden Text zu sehen, und selbst dann ist er schwer zu erkennen.

      Die enorme Leistung der Deutung des Codex Ephraemi Rescriptus brachte Tischendorf bei anderen Forschern Ansehen ein, was leicht zu verstehen ist. Wie er es geschafft hat, alle 209 Bögen des Neuen Testaments zu lesen, ist ein Rätsel. Die Textmenge der erhaltenen Bögen macht über die Hälfte des Neuen Testaments aus.

      Der Codex Ephraemi Rescriptus ist ein faszinierendes Beispiel für die Wiederverwertung von Pergament im Mittelalter. Hätte sich ein unbekannter Mönch nicht irgendwann die Mühe gemacht, das alte Pergament erneut zu verwenden, wäre dieses Exemplar des griechischen Neuen Testaments der Nachwelt vielleicht niemals erhalten geblieben. Das zeigt, wie viele Paradoxe die Textgeschichte oft ausmachen: Die augenscheinlich am meisten zerstörten Manuskripte können die größten und erfreulichsten Überraschungen verbergen.

      Fakten über den Codex Ephraemi Rescriptus:

       Symbol in der Textforschung: C.

       Schreibmaterial: Pergament.

       Bögen: Vom Alten Testament sind 64 Bögen bewahrt, vom Neuen Testament 145.

       Seitengröße: 32 × 27 cm.

       Text einspaltig.

       Beinhaltet Teile vom Text aller Bücher des Neuen Testaments, abgesehen vom 2.Thessalonicherbrief und dem 2.Brief des Johannes. Ursprünglich enthielt das Buch die komplette Bibel.

       Datierung: 5.Jahrhundert.

       Der ursprüngliche Text wurde im 12.Jahrhundert abgewaschen und mit 38 Predigten von Ephräm ersetzt, einem syrischen Theologen aus dem 4.Jahrhundert.

       Aufbewahrung in der Nationalbibliothek in Paris.

      Das nächste Manuskript, dem wir uns widmen, lief Gefahr, zerstört zu werden, als es während der Religionskriege im 16.Jahrhundert aus einer Klosterbibliothek in Lyon geholt wurde. Es erwies sich als ein sehr spezielles Manuskript. Aber wie sollte man ein Manuskript mit einer recht freien Nacherzählung des Bibeltextes einordnen? Sollte man es besser im Verborgenen halten?

      Überall in der Stadt sind die Geräusche von Zerstörung zu hören: Statuen werden auf dem steinigen Kirchenboden zertrümmert, Mäntel und Chorgewänder in Stücke gerissen, Grabsteine und Reliquien zermalmt – das dumpfe Dröhnen, wenn die Kirchenglocken zu Boden knallen. Protestanten verwüsten und plündern die französische Stadt Lyon. Immer mehr haben sich ihnen in den vergangenen Jahren angeschlossen, und nunmehr haben die protestantischen Hugenotten die alte Stadt eingenommen. Es ist der 2.Mai 1562. Im Zuge der Verwüstungen wird unter anderem das Grab des heiligen Irenäus zerstört.

      In dem alten Kloster, das Irenäus’ Namen trägt, steht ein Mann um die vierzig, mit spitzem Bart und scharfem Blick. Tief im Inneren der Bibliothek der Mönche hat er ein altes Buch entdeckt, das sich von den anderen unterscheidet. Es ist Theodore Beza (1519–1605), einer der führenden protestantischen Theologen der in Europa wütenden Religionskriege. Er ist zum ersten Mal hier in der Hochburg der Katholiken der Stadt und blättert nun in dem alten, handgeschriebenen Manuskript von Seite zu Seite. Auch wenn mehrere Seiten fehlen, erkennt Beza umgehend den Wert des Buches: Es beinhaltet das Neue Testament sowohl in Griechisch als auch in Latein. Er schiebt das dicke Buch unter seinen Mantel und verlässt schnellen Schrittes das Kloster.

      Ist es Plünderung? Ist es eine Rettungsaktion? Was wäre mit dem Manuskript geschehen, hätte Theodore Beza es nicht an sich genommen? Das wissen wir nicht. Heute jedoch kann das Manuskript in der Universitätsbibliothek Cambridge

      studiert werden. Und es trägt noch immer den Namen Bezas, des Mannes, der

      es an sich genommen – oder gerettet – hat, je nachdem wie man es betrachtet.

      Die historischen Wege vieler Manuskripte sind verzweigt. Der Codex Bezae Cantabrigensis ist ein Beispiel dafür. Es ist an so vielen Orten gewesen, wurde von so vielen Händen berührt und wurde von so vielen Stiften vollgekritzelt, dass man ein ganzes Buch allein mit Erzählungen über dieses eine Manuskript füllen könnte. Das trifft auf alle Manuskripte zu, die so alt sind. Der Textforscher David C. Parker hat dieses Manuskript über viele Jahre genau studiert. Über das alte Buch schreibt er:

      »Die Seiten eines geöffneten Manuskripts erscheinen uns zweidimensional. Sie verfügen jedoch auch über eine dritte Dimension, eine zeitliche Perspektive. Je interessanter und komplizierter die Textgeschichte des Manuskripts ist, desto stärker wird diese dritte Dimension für uns sichtbar.«3

      Wir können versuchen, uns in diese dritte Dimension hineinzudenken: Wie verstand ein Mönch im 7.Jahrhundert das dort Geschriebene? Was brachte einen protestantischen Theologen in der Renaissance dazu, bei dem Buch innezuhalten? Und was würden uns die zierlich niedergeschriebenen Buchstaben mitteilen, wenn das Buch in diesem Moment direkt vor uns auf dem Tisch liegen würde? Würden wir denken, die roten und schwarzen Buchstaben hätten etwas mit uns und unserer Gegenwart zu tun? Oder würden wir das Manuskript als unzeitgemäß und unbrauchbar zurückweisen?

      Diese letzte Möglichkeit – verworfen und zurückgewiesen zu werden – bestimmte in weiten Teilen seiner Existenz das Schicksal des Codex Bezae Cantabrigensis. Grund dafür ist sein ganz spezieller, selbstständiger Text. Viele Forscher und Theologen haben ihn still beiseitegelegt, weil er so viele eigene Formulierungen, so viele eigenartige Varianten und eine so große Freiheit in der Wortwahl aufweist. »Das muss ein Manuskript mit ungewöhnlich vielen Fehlern sein«, dachte man. Aber vielleicht ist es umgekehrt? Wurde der Text des Manuskripts vielleicht gerade mit besonderer Sorgfalt ausgearbeitet? Kann er das Resultat der Arbeit eines großen Künstlers sein – eines Theologen mit einem äußerst feinen Sinn für Stil, der jedes Wort genau abgewogen hat, bevor er die heiligen Texte nacherzählte?

      Denn vielleicht gehört dieses Manuskript ins Genre Nacherzählung. Der unbekannte Theologe, der diesen freien Text seinerzeit in der Urkirche ausformuliert hat, war nicht daran interessiert, eine exakte Abschrift des vor ihm liegenden Manuskripts anzufertigen. Nein, er hatte ein vollkommen anderes Ziel vor Augen: Er wollte einen noch schöneren Text formulieren, einen Text, der besonders gut über die Lippen ging, wenn er laut gelesen wurde. Deshalb raufen sich Textforscher heute die Haare, wenn sie sich in fast jeder Zeile einem Schwarm kleiner Umschreibungen, Zusätze und sprachlicher Erweiterungen gegenübersehen. Es ist nicht so, dass der Inhalt ein ganz anderer ist, jedoch ist alles mit einem künstlerischen