Versuchen wir uns vorzustellen, wie es war, diese Manuskripte zu verstehen. Es kann keine leichte Aufgabe gewesen sein, Vorleser zu sein, weder in der Gesellschaft noch in der Kirche. Die meisten Hilfsmittel, wie man sie in modernen Texten findet, waren in der Antike unbekannt:
Erstens gab es keine Leerzeichen zwischen den einzelnen Wörtern. In einigen Manuskripten ist die Andeutung eines Leerzeichens zu finden, zumindest zwischen den Sätzen. In der Regel bestanden jedoch alle Manuskripte aus kontinuierlicher Schrift, d.h. einem Text komplett ohne Leerzeichen. Wer vorlesen sollte, musste deshalb vorher üben, um zu wissen, wie DIELANGEREIHEVONBUCHSTABENEINGETEILTWERDENMUSSTE.
Nur wer geübt hatte, wusste, wo die einzelnen Wörter anfingen und endeten.
Zweitens bestanden die Texte ausschließlich aus GROSSBUCHSTABEN. Die Kleinschreibung entwickelte sich erst im Mittelalter. Bis dahin hatte der Vorleser nicht die Möglichkeit, anhand großer Anfangsbuchstaben zu wissen, wo ein Satz begann oder was Orts- und Personennamen waren, wie es im heutigen Schriftbild der Fall ist.
Drittens fanden sich in den Texten weder Kapitel- noch Versnummern. Kapitelnummern wurden erst im 13.Jahrhundert eingesetzt, und die heute übliche Einteilung in Verse wurde erst 1551 im griechischen Neuen Testament des französischen Herausgebers Stephanus eingeführt.
Viertens fanden sich in dem Text keine Überschriften. Daher war es nicht so einfach, seinen bevorzugten Text oder überhaupt irgendeinen bestimmten Text zu finden. Das Problem, den Bibeltext des Tages zu finden, wurde gelöst, indem man Lektionare anfertigte, das heißt Textbücher mit ausgewählten Bibeltexten. In diesen Büchern fand sich für jeden Tag oder für jeden Sonntag ein Abschnitt. Über vierzig Prozent aller neutestamentlichen Manuskripte sind solche Lektionare. 2433 wurden bisher gefunden.
Fünftens gab es keine Fußnoten, die dem Leser beim Verständnis der Inhalte halfen, und kaum Querverweise, die auf andere Texte mit gleichem oder ähnlichem Inhalt hinwiesen. In modernen Bibeln gibt es diese reichlich, in der Antike jedoch musste man ohne sie auskommen, abgesehen von den Stellen, wo jemand eine Notiz an den Rand des Manuskripts geschrieben hatte. Anmerkungen dieser Art finden sich in vielen Manuskripten.
Wir werden uns bald einem Manuskript zuwenden, das über viele Notizen am Rand verfügt. Aber zuerst müssen wir eine wichtige Frage hinsichtlich des verwendeten Buchformats stellen: Warum nutzten die Christen keine Buchrollen?
Die Büchermenschen
Die Manuskripte der ersten Christen weisen ein sehr überraschendes Merkmal auf: Ihre Schriften wurden nicht auf Buchrollen, sondern in Büchern verfasst. Die Christen entschieden sich nämlich sehr früh für das Buchformat. Ein solches Buch, in dem man blättern konnte, nennt sich Codex. Nahezu alle in diesem Buch behandelten Texte stammen aus alten Codizes. Von den fast 6000 vorliegenden Manuskripten des Neuen Testaments sind lediglich fünf auf Rollen geschrieben. Worin liegt das begründet?
Lag es vielleicht daran, dass die Herstellung von Büchern billiger war? Indem man beide Seiten eines Bogens beschrieb, sparte man bei den Ausgaben für das Schreibmaterial fast die Hälfte. Oder war es, weil Bücher auf Reisen einfacher transportiert werden konnten? Das angenehme Format kann zur schnellen Verbreitung der christlichen Bücher beigetragen haben. Oder war es, weil ein Buch auf der Suche nach einem bestimmten Zitat schneller aufgeschlagen werden konnte als eine Schriftrolle?
Wollten die Christen vielleicht verdeutlichen, dass ihr Glaube nicht mit dem der Juden identisch war? Viele Zeitgenossen unterschieden nämlich nicht zwischen Juden und Christen. Oder entschieden sie sich für das Buch, weil es leichter zu verstecken war? Ein Buch konnte unter etwas anderem verborgen, in eine Felsspalte geschoben oder zusammengefaltet werden. Vielleicht bezeugt die Wahl des Buchformats also die stete Bereitschaft der Christen, ihre Bücher zu verbergen, wenn sie von Verfolgung bedroht waren?
Oder hat die Wahl mit dem Buchformat an sich zu tun? Ein Codex war von Beginn an eine Art Notizbuch. Er wurde nicht für große literarische Werke verwendet, sondern war ein praktischer kleiner Begleiter, in dem man Notizen machen konnte. Einer Theorie des Forschers Colin H. Roberts zufolge wurde das Markusevangelium zuerst in so einem Notizbuch niedergeschrieben. Daher verbanden die Menschen den Codex mit dem Christentum, wodurch alle späteren christlichen Bücher auch die Buchform erhielten.
Die vielleicht beste Erklärung nimmt ihren Ausgangspunkt in dem Umstand, dass die christlichen Schriften in Gruppen gesammelt wurden. Ein Codex bot nämlich Platz für mehr Text als eine Schriftrolle. Solange man lediglich ein Evangelium pro Band schreiben wollte, war dies mittels einer Schriftrolle gut umsetzbar. Eine Rolle konnte jedoch nicht länger als zehn bis zwölf Meter sein. Und schon bald benötigten die Christen ein Format, das mehreren Schriften in einem Band Platz bot. Allem Anschein nach sind diese Sammlungen sehr früh entstanden. Vermutlich kursierte bereits um das Jahr 100 n.Chr. eine Sammlung der von Paulus verfassten Briefe. Diese Sammlung hätte eine Buchrolle von etwa 25 Metern erfordert, also doppelt so lang, wie eine Rolle sein konnte. Paulus’ Briefsammlung sprengte somit die Buchrolle, und den Christen blieb nur eine Alternative: Sie mussten die Briefe in Büchern sammeln, in denen man blättern konnte.
Somit kann die Frage gestellt werden: Welche Auswirkungen hatte die Wahl des Buchformats auf unser Verständnis der Texte? Eine Buchrolle ist dafür gemacht, einen Text zusammenhängend von Anfang bis Ende zu lesen, während ein Buch den Leser einlädt, vor- und zurückzublättern. Wie hat das Buch die Art und Weise beeinflusst, in der wir heute die Bibel lesen? Springen wir im Text mehr hin und her?
Viele Leser springen auf der Jagd nach den guten Zitaten im Text hin und her. Häufig wählen sie die schönen und tröstenden Sätze aus. Die Gefahr besteht selbstverständlich darin, dass die schwierigen und herausfordernden Texte unberührt bleiben. Vielleicht wäre es gewinnbringend, längere Textabschnitte im Zusammenhang zu lesen? Vielleicht sollten wir einfach mehr im Text »scrollen«?
Jetzt haben wir uns ganz kurz mit dem Erscheinungsbild der Manuskripte beschäftigt und mögliche Gründe für die Wahl des Buchformats zusammengestellt. Lassen Sie uns nun ins 5.Jahrhundert zurückgehen. Ist es möglich, Manuskripte des Neuen Testaments aus dieser Zeit zu finden?
In London befindet sich ein Dokument mit einigen geheimnisvollen Notizen neben dem Bibeltext. Es ist das erste Manuskript, das ein eigenes Symbol erhielt. Das Symbol ist der Buchstabe »A«, der erste Buchstabe des Alphabets. Aber woher kommt das Manuskript? Und wie alt ist es?
TEIL 2:
Die großen Manuskripte
des Neuen Testaments
Das Manuskript mit dem falschen Namen:
Codex Alexandrinus
»Das Manuskript soll sich in der Zelle des Patriarchen in der Festung in Alexandria befinden. Wer es von dort entfernt, soll verbannt und ausgestoßen sein. Gruß Athanasius der Demütige.«1
Die oben stehende Anmerkung ist historisch. Sie wurde auf das große Pergamentmanuskript Codex Alexandrinus gekritzelt, wobei sich hinter dem Unterzeichner »Athanasius der Demütige« der Patriarch Athanasius III. verbirgt. Die Hafenstadt Alexandria galt in der Antike als wichtiges Zentrum der Gelehrsamkeit und des Wissens – sowie der christlichen Kirche. Der Bischof von Alexandria war Patriarch über alle Christen Ägyptens, und Athanasius III. hatte diese Stellung von 1275 bis 1315 n.Chr. inne. Er ist der Mann hinter der kurzen Nachricht: Das Buch solle bei ihm verbleiben.
Der Codex Alexandrinus war das erste in Europa bekannte große Bibelmanuskript der Antike. 1627 wurde es König Karl I. von England als imposantes Neujahrsgeschenk überreicht. Im Zuge der feierlichen Übergabe wurde auch hervorgehoben, dass das Buch dem Patriarchen von Alexandria höchstpersönlich gehört habe. Aus diesem Grund erhielt es für alle Zeiten den ersten Platz unter den alten Manuskripten der Bibel und als Symbol den Buchstaben A.
Der Codex Alexandrinus ist ein großes und schönes Manuskript, auf feines Pergament