Von den erhaltenen Puzzleteilen passen einige scheinbar nicht zusammen. Kein Manuskript gleicht komplett dem anderen. Manche unterscheiden sich sogar stark voneinander. Wie kann plötzlich in Psalm 145 des Alten Testaments ein neuer Vers auftauchen? Warum ist das letzte Kapitel des Markusevangeliums in vielen Manuskripten um zwölf Verse länger? Woher kommt im Johannesevangelium die Erzählung von der des Ehebruchs überführten Frau? Und wie kam es zu den vielen kleinen Unterschieden in der Schreibweise von Wörtern und Sätzen? Das sind einige der Fragen, auf die Forscher seit Hunderten von Jahren Antworten suchen.
Die Unterschiede zwischen den Manuskripten sind eine Goldgrube für alle Liebhaber von Verschwörungstheorien. Viele fragen sich, ob die Texte über die vielen Jahrhunderte des Kopierens hinweg willentlich verändert wurden. Kann es sich gar um Fälschungen handeln? Hat ein römischer Kaiser große Teile der Bibel ganz einfach ausgetauscht? Ist es überhaupt möglich zu wissen, was in den ursprünglichen Texten gestanden hat? Die Textgeschichte der Bibel ist von vielen derartigen Gerüchten umgeben. Welche davon sind wahr und bei welchen handelt es sich um moderne Fiktion?
Manuskriptfunde haben von jeher die Fantasie der Menschen angestachelt. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn moderne Krimiautoren die Entdeckung alter Manuskripte als Grundlage für ihre Bücher verwenden. Wo Kriminalromane jedoch erfundene Geschichten erzählen, berichtet dieses Buch von realen Ereignissen – die ab und an die Fantasie übersteigen. In der Textgeschichte begegnen wir Käufen und Verkäufen, die kein Tageslicht vertragen, Funden, die an den unwahrscheinlichsten Orten gemacht wurden, und Manuskripten, die im letzten Moment vor der Zerstörung gerettet wurden. In diesem Buch erfahren Sie, wie alt die ältesten Manuskripte der Bibel sind, welche Vorgeschichte sie haben und wie sie in den letzten Jahrhunderten wiederentdeckt wurden.
Heutzutage haben wir Zugang zu einer Unmenge an alten Manuskripten. Sie liefern den Beweis für die frühe Existenz und Nutzung der biblischen Bücher. Aber wie weit zurück in die Zeit führen uns die Manuskripte? In diesem Buch werden wir uns Stück für Stück in die Geschichte zurückarbeiten. Los geht es am Übergang von der Antike zum Mittelalter.
Wir beginnen mit dem Neuen Testament. Wie nah kommen wir der Zeit der Apostel? Sind möglicherweise Manuskripte zu finden, die bis ins 4.Jahrhundert zurückreichen oder noch weiter? Kurzum, wie weit zurück in der Zeit gelangt man? Dieses Buch präsentiert die wichtigsten und ältesten Manuskripte dieser Textgeschichte.
Im weiteren Verlauf werden wir die Manuskripte des Alten Testaments näher betrachten. Davon gibt es weniger, jedoch sollen die wichtigsten hier vorgestellt werden. Bei ihnen ist der zeitliche Abstand in der Geschichte noch größer als bei jenen des Neuen Testaments. Wie weit zurück können wir ihnen folgen? Wie wichtig sind die berühmten Schriftrollen vom Toten Meer? Und was wurde aus den verschwundenen Bögen eines alten Manuskripts aus Aleppo?
Dieses Buch ist weder eine vollständige noch eine wissenschaftliche Einführung in die Textgeschichte der Bibel. Vielmehr handelt es sich um eine einfache und populärtheologische Darstellung, die einige Kostproben eines vielfältigen und spannenden Fachgebietes offeriert. Wer sich detaillierter in das Fachgebiet einlesen möchte, kann die Literaturliste im Anhang als Ausgangspunkt nutzen.
Aber lassen Sie uns zuerst das Wort »Manuskript« ein wenig genauer unter die Lupe nehmen, da es uns in diesem Buch immer wieder begegnen wird. Was bedeutet dieses Wort?
Wie sehen die Puzzleteile aus? Ein Manuskript
Josef ist müde. Der Schilfstift kratzt über den groben Papyrus. Mehr und mehr neigen sich die kantigen Buchstaben nach rechts, ebenso sein Kopf. Es ist nur noch ganz wenig übrig, dann ist er fertig. Sein Nacken ist steif, seine Augen schmerzen. Das Öl in der Lampe ist fast aufgebraucht. Jetzt gilt es, die letzten Zeilen fertigzukriegen. Erneut taucht er den Schilfstift in das Tintenfass und schreibt die letzten Worte des Buches: »… Ihnen allen verkündete er, wie Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet, und lehrte sie alles über Jesus Christus, den Herrn – frei und offen und völlig ungehindert.« (Apg 28,31)
Endlich kann er den Stift beiseitelegen. Er dehnt den Nacken, beugt den Rücken nach hinten. Es ist das umfangreichste Buch, das er bisher geschrieben hat. Er lässt die Finger über den Stoß Papyrusbögen gleiten. Einhundertzwölf große Bögen sind es geworden. Wie viele Abende hat er an dem Buch gearbeitet? Er hatte aufgehört zu zählen. Alles, woran er denken konnte, war, dass es rechtzeitig fertig werden musste – für den großen Tag, der in einigen Stunden beginnen würde. Genauso wie die anderen Gemeinden im Tal brauchte selbstverständlich auch seine ein großes Buch mit allen vier Evangelien. Am nächsten Tag sollte es geweiht werden.
Dieses Mal hatte er nicht nur eines der heiligen Bücher schreiben sollen, sondern alle vier. Sie sollten in einem großen Papyrusbuch Platz finden. Und nicht nur das: Auch das große Buch über das Tun der Apostel sollte ein Teil davon sein. »Das macht den Menschen so viel Mut«, hatte Vater Anatolios gesagt. »Und wenn wir in unserer jungen Gemeinde etwas brauchen, dann ist es der Mut und die Stärke der Apostel, die hinausgingen und vom Herrn Jesus verkündeten.« Der Alte hatte gelächelt und Josef auf die Schulter geklopft.
»Du darfst nicht vergessen, dass wir nicht viele wie dich haben«, hatte er gesagt. »Jetzt, wo der alte Sabbateus weg ist, bist du der Einzige hier, der lesen und schreiben kann.« Josef wusste, dass die meisten in seiner Kirche kaum mehr als ein paar Zeichen kritzeln konnten, die ihre Namen darstellen sollten. Er selbst hatte jedoch von dem alten Juden eine gründliche Ausbildung in der Kunst des Schreibens erhalten.
Zudem war er mehrere Jahre auf dem Schiff eines phönizischen Kaufmanns die Küste hinauf und hinab gesegelt. Als Schreiber des Kaufmanns hatte er gelernt, sowohl schnell als auch genau zu schreiben. »Acht Fässer Roggen« und »zwölf Säcke Weizen« gehörten zu seinen häufigsten Notizen – das war nicht gerade eine spannende Arbeit gewesen, aber zumindest hatte er von dem alten Phönizier Genauigkeit gelernt.
Ein letztes Mal lässt er den Blick über den Stapel Papyrusbögen gleiten, bevor er die Flamme der Öllampe löscht. In der Tat ist es spannend, diese Bücher beständig neu zu schreiben. Obwohl er mittlerweile weiß, was auf den nächsten Seiten steht, erzeugen die Worte in seinem Mund einen ganz eigenen, süßen Geschmack. Wenn sie unter seinem Schilfstift Form annehmen, weiß er, dass er an etwas Wichtigem teilhat. Noch immer erinnert er sich an das gute Gefühl, das ihn übermannte, als er die Texte im Gottesdienst zum ersten Mal vorlas. Der alte Sabbateus hatte ihn zu sich gebeten, ihm einen Arm um die Schulter gelegt und gesagt: »Meine Augen sind nicht mehr in der Lage, die Zeichen voneinander zu unterscheiden. Fortan musst du die heiligen Schriften lesen.«
Das Letzte, woran Josef vor dem Einschlafen denkt, sind erfreute Gesichter. Endlich soll die Gemeinde ein eigenes Buch mit den heiligen Schriften bekommen. Die anderen Kirchen hatten sich freundlich gezeigt und ihre Bücher ausgeliehen, sodass er von den besten Büchern des Tals hatte abschreiben können. Jetzt ist das große Evangelienbuch fertig, und Josef freut sich darauf, es am nächsten Tag in der Kirche vorzulegen.
Ungefähr so können wir uns die Vorgeschichte eines der ältesten existierenden Manuskripte des Neuen Testaments vorstellen. Das Manuskript wurde in den 1930er-Jahren in Ägypten gefunden. Es bekam den Namen Papyrus 45 und wurde irgendwo im Niltal verfasst. Das große Buch enthält sowohl die vier Evangelien als auch die Apostelgeschichte. Alle 224 Seiten sind mit der gleichen, leicht nach rechts geneigten Handschrift geschrieben. Wie so viele andere frühe Manuskripte wurde das Buch von einem gewöhnlichen Christen niedergeschrieben und nicht von einem Mönch im Kloster. Er oder sie verfügte wahrscheinlich über eine Ausbildung als Schreiber und gebrauchte die Schreibkunst in der täglichen Arbeit; neue Exemplare der heiligen Bücher für die Gemeinde wurden jedoch in der arbeitsfreien Zeit gefertigt.
Der Schreiber ist der anonyme Held der Textgeschichte. In einigen alten Manuskripten finden sich kleine »Seufzer« von ihm oder ihr, eingefügt nach getaner Arbeit.