Einhundert Jahre später hält sich der große Kirchenhistoriker Eusebius (gest. 339 n.Chr.) in Caesarea auf. In seiner Kirchengeschichte beschreibt er die Bücher des Neuen Testaments und teilt sie in drei Gruppen ein: Die erste Gruppe bilden die allgemein anerkannten Bücher, wozu die vier Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas, die Paulusbriefe, der Hebräerbrief, der 1.Brief des Johannes, der 1.Brief des Petrus sowie die Johannesoffenbarung gehören; insgesamt 22 Bücher. In der zweiten Gruppe finden sich die umstrittenen Bücher, die nicht überall in Gebrauch sind: Das sind der Brief des Jakobus, der Brief des Judas, der 2.Brief des Petrus sowie der 2. und 3.Brief des Johannes – das heißt, die restlichen Bücher dessen, was wir als das Neue Testament bezeichnen. Die dritte Gruppe umfasst Bücher, die Eusebius als die unechten bezeichnet: der »Hirte des Hermas«, der Barnabasbrief und die »Lehre der zwölf Apostel«. Daneben gibt es einige Schriften, die es laut Eusebius nicht einmal verdienen, als »unecht« bezeichnet zu werden, wozu er unter anderem das Petrusevangelium und das Thomasevangelium zählt.
Einer der bedeutendsten Kirchenväter zur Zeit der Abgrenzung des Neuen Testaments war Augustinus (354–430 n.Chr.). Er war Bischof im nordafrikanischen Hippo. In seinem Buch »Über die christliche Lehre« benennt er die wichtigsten Kriterien bei der Auswahl der Bücher des Neuen Testaments. Seine Aussagen können in drei Punkten zusammengefasst werden:
– Die Schriften mussten apostolischen Ursprungs sein:
Sie mussten von einem Apostel oder einem Mitarbeiter eines Apostels geschrieben worden sein.
– Ihr Inhalt musste apostolisch sein:
Sie mussten die gleichen Botschaften über Christus enthalten wie die anderen Schriften, die bereits in Gebrauch waren.
– Sie mussten allgemein verbreitet sein:
Es reichte nicht aus, eine Schrift vorzuschlagen, die lediglich an einigen wenigen Orten in Gebrauch war. Die Bücher mussten in der gesamten christlichen Kirche bekannt sein und genutzt werden.
Der endgültige Schlussstrich unter das Neue Testament wurde 397 n.Chr. während einer Synode in Karthago gezogen. Dort wurde festgelegt, dass keine anderen Schriften als die 27 des heute bekannten Neuen Testaments verwendet werden sollen. Diese Schriften hatte Bischof Athanasius (298–373 n.Chr.) im Jahr 367 n.Chr. in einem Osterbrief in Alexandria aufgelistet. Und so geschah es.
Diese Punkte belegen, dass die Bücher, die zum Neuen Testament wurden, sowohl im Norden und Süden als auch im Osten und Westen des Mittelmeerraums in Gebrauch waren. Auch wenn dieser lange und spannende Prozess seinen Abschluss letztendlich im Rahmen einer Synode fand, waren es doch die Leser, die entschieden, welche Bücher sie am meisten mochten. Man kann von einer demokratischen Volksbewegung sprechen, die durch Gebrauch über die Auswahl der Bücher entschied – am Ende des Prozesses erst wurden die Beschlüsse gefasst.
Bislang sind wir den Manuskripten des Neuen Testaments zurück bis zum Beginn des 5.Jahrhunderts gefolgt. Jetzt begeben wir uns in das 4.Jahrhundert und widmen uns den beiden prächtigsten und wichtigsten jemals gefundenen Manuskripten des Neuen Testaments. Beide wurden im 19.Jahrhundert erstmals von Forschern beschrieben – und in diese Zeit führt uns das nächste Kapitel.
Das Manuskript im Kloster: Codex Sinaiticus
»Schlafen fühlte sich wie ein Verbrechen an.«6
Das Zitat stammt aus dem Tagebuch des jungen Textforschers Konstantin von Tischendorf (1815–1874). Er hatte soeben eine ganze Nacht mit dem weltweit ältesten kompletten Manuskript des Neuen Testaments in den Händen verbracht. Kein Forscher wusste von der Existenz des Manuskripts, bevor der Verwalter des von Tischendorf besuchten Klosters es aus einem Schrank holte. Tischendorf hatte die Erlaubnis erhalten, es sich näher anzusehen, jedoch nur bis zum nächsten Tag. Er war sich vollkommen im Klaren darüber, wie einmalig diese Möglichkeit war, und blieb dafür die ganze Nacht wach. Zu schlafen wäre schlicht und einfach nicht richtig gewesen, fand er.
Die moderne Geschichte des Manuskripts, das den Namen Codex Sinaiticus bekam, beginnt fünfzehn Jahre vor dieser Nacht 1859. Bereits 1844 reist Konstantin von Tischendorf auf der Suche nach alten Manuskripten des Neuen Testaments in das alte Katharinenkloster am Fuße des Sinai. Er ist nicht einmal dreißig Jahre alt, hat aber bereits viele griechische Bibelmanuskripte studiert. Mithilfe von Chemikalien hat er bereits den Versuch unternommen, die verborgene Schrift des Codex Ephraemi Rescriptus zu deuten. Mit wachsender Spannung hat er zugesehen, wie die alten Buchstaben auf dem Pergament sichtbar wurden, nachdem sie viele Hundert Jahre verborgen waren.
Sein Interesse, die ältesten Manuskripte der Bibel zu finden, entwickelte sich bereits in den Jahren 1834 bis 1838 während seines Theologiestudiums in Leipzig. Der Unterricht bei Professor Johann G.B. Winer löste bei Tischendorf den glühenden Eifer aus, die frühesten Texte des Neuen Testaments ausfindig zu machen. Er beschloss, sich voll und ganz dieser Lebensaufgabe zu widmen und schrieb 1838 an seine Verlobte:
»Ich stehe vor einer heiligen Aufgabe, dem Kampf, den ursprünglichsten Text des Neuen Testaments wiederzufinden.«7
Tischendorf gab sich dieser Lebensaufgabe mit immensem Arbeitseifer hin. Er weihte sein Leben der Suche nach alten Manuskripten, und seine Verlobte musste bis 1845 auf die Hochzeit warten. Tischendorf fand und publizierte mehr Manuskripte des Neuen Testaments als irgendein anderer. Auf seinen vielen und langen Reisen in den Orient fand er insgesamt 21 Manuskripte, die der Forschung bis dahin unbekannt waren. Er schrieb über 150 Bücher und Artikel, vor allem über die Textgeschichte des Neuen Testaments. Und nicht zu vergessen: Acht Mal nahm er die unsagbar detailreiche Kleinstarbeit auf sich, eine neue Textausgabe des griechischen Neuen Testaments anzufertigen. Für diese Textausgaben verglich er Hunderte von Manuskripten bis ins kleinste Detail und erklärte die Unterschiede in Tausenden von Fußnoten. Noch heute zählen Tischendorfs Fußnoten zu den Standardwerken der Forschung zum Neuen Testament.
In den Textausgaben Tischendorfs nimmt der Codex Sinaiticus selbstverständlich einen wichtigen Platz ein. Seiner Meinung nach war das Manuskript das beste und zuverlässigste Exemplar der vorhandenen Bibeltexte. Auch wenn diese Auffassung nach den neuen Funden im 20.Jahrhundert etwas zu differenzieren ist, ist der Codex Sinaiticus für die Forscher noch immer eines der wichtigsten Manuskripte, wenn es darum geht, die älteste Textform auszumachen.
Lassen Sie uns zu seinem ersten Besuch im Katharinenkloster 1844 zurückkehren. Die Geschichte des Klosters reicht bis ins 6.Jahrhundert n.Chr. zurück. Mehr als eintausend Jahre lang haben sich hier Mönche der Abschrift biblischer Bücher gewidmet. In den Wänden steckt eine uralte Schrifttradition – buchstäblich gesprochen, wie sich 1975 herausstellen sollte. »Hier könnten sich alte, unentdeckte Manuskripte finden«, denkt Tischendorf. Er erhält die Erlaubnis, sich in der Bibliothek des Klosters umzusehen, entdeckt jedoch nichts von besonderem Interesse.
Wie sich später herausstellen sollte, wurden andernorts im Kloster weitere Manuskripte gelagert. Erst 1975 wurde ein geheimer, zugemauerter Raum entdeckt. Niemand weiß genau, wann und warum der Raum versiegelt wurde. Wahrscheinlich haben die Mönche den alten Brauch praktiziert, abgenutzte Manuskripte nicht wegzuwerfen, sondern sie zu begraben. Bei dem Einmauern kann es sich um eine solche Grablegung alter, nicht mehr in Gebrauch befindlicher Dokumente gehandelt haben.
Das muss so weit in der Zeit zurückgelegen haben, dass sich keiner der Mönche daran erinnerte, als Tischendorf an jenem Tag ins Kloster kam. Der Raum muss spätestens im 18.Jahrhundert versiegelt worden sein. In ihm wurden mehr als 1000 Manuskripte in unterschiedlichen Sprachen gefunden; 836 davon waren auf Griechisch verfasst. Zwölf der gefundenen Bögen stammen aus dem alttestamentlichen Teil des Codex Sinaiticus und waren den Forschern bis dahin unbekannt.
Überhaupt haben sich die Klöster im östlichen Teil der Christenheit als unglaublich wichtige Verstecke des griechischen Bibeltextes erwiesen. Als die westliche Kirche im 4.Jahrhundert n.Chr. dazu überging, Latein zu verwenden, lasen die Mönche im