Pergamente und Papyri. Hans Johan Sagrusten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Johan Sagrusten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783438072429
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vernichtet wurden, wurde im Osten der griechische Text hinter dicken Klostermauern beständig von Hand kopiert. Als im Zuge der arabischen Invasion um 640 die Klöster und Kirchen in Nordafrika in Schutt und Asche gelegt wurden, fuhren die Mönche im Osten damit fort, ihre Manuskripte abzuschreiben. Bis sie im 15.Jahrhundert selbst von der muslimischen Invasion übermannt wurden, hielten sie an ihren Traditionen fest und überlieferten den Bibeltext – auf Griechisch. Durch die wechselnden Jahreszeiten der Geschichte hindurch hat der griechische Bibeltext hinter den Klostermauern schlicht und einfach überwintert, sicher verborgen vor Kriegen und Gefahren.

      Während seines ersten Besuchs 1844 findet Tischendorf jedoch nichts von besonderem Interesse. Erst als er aus der Bibliothek kommt, hält er inne: In einem Korb mit altem Abfall, den die Mönche zum Feueranmachen verwenden, entdeckt er einige alte Pergamentbögen mit griechischen Buchstaben darauf. Tischendorf erkennt sofort, dass die Schrift darauf sehr alt ist und dass die Texte von der griechischen Übersetzung des Alten Testaments stammen. Er zieht 43 Bögen aus dem Korb. Ein Mönch berichtet ihm, dass sie bereits zwei Körbe voll solch alter Bögen verbrannt hätten. Auf der Suche nach alten Dokumenten, die sie zum Feueranzünden verwenden konnten, hatten sie offensichtlich die Bibliothek aufgeräumt. Der alte Brauch, die Manuskripte zu begraben, anstatt sie zu verbrennen, war zu dieser Zeit offenbar in Vergessenheit geraten. Tischendorf bittet die Mönche, fortan nicht mehr mit alten Manuskripten Feuer zu machen, und nimmt die 43 Bögen mit nach Europa. Diese 43 Bögen beinhalten Text vom 1.Buch der Chronik, Jeremia, Nehemia und Ester. Tischendorf veröffentlichte sie unter dem Namen Codex Frederico-Augustanus. Heute befinden sie sich in der Universitätsbibliothek Leipzig.

      1853 kehrt Tischendorf in das Kloster zurück, jedoch sind die Mönche dieses Mal ihm gegenüber ein wenig misstrauisch; seine Begeisterung beim ersten Besuch war ihnen nicht entgangen. Daher bekommt er keine weiteren Manuskripte zu sehen. Auch als er 1859 ein drittes Mal zurückkehrt, scheint die Suche nach alten Manuskripten ergebnislos zu bleiben. Am Tag vor seiner geplanten Abreise zeigt er dem Verwalter des Klosters eine von ihm in Druck gegebene neue griechische Ausgabe des Alten Testaments. Der Verwalter entgegnet, dass auch er über eine griechische Bibel verfüge. Aus dem Schrank in seiner Klosterzelle holt er ein riesengroßes Manuskript, eingewickelt in rotes Tuch. Das Tuch wird zur Seite geschlagen und dort, vor den Augen des überwältigten Tischendorf, liegt ein Schatz der Art, wie er ihn die ganze Zeit gehofft hatte zu finden: 199 Bögen eines biblischen Manuskripts aus den ersten christlichen Jahrhunderten, mit uralter, griechischer Handschrift geschrieben. Die Seiten sind weder verblasst noch an den Rändern beschädigt, wie es bei vielen alten Funden der Fall ist. Diese Bögen befinden sich in einem guten Zustand. Das Pergament ist noch immer geschmeidig und hell, die Handschrift auf allen Seiten gut und leicht lesbar.

      Tischendorf bemüht sich, seine enorme Begeisterung zu verbergen, und bittet darum, sich das Manuskript bis zum nächsten Tag ansehen zu dürfen. Dieser Wunsch wird ihm gewährt. Es ist diese Nacht, in der Konstantin von Tischendorf hellwach, mit weit aufgerissenen Augen im schlechten Licht einer flackernden Lampe dasitzt und Seite um Seite des alten griechischen Bibeltextes liest. In dem Manuskript findet er viel mehr, als er gehofft haben kann. Es beinhaltet nicht nur den Großteil des Alten Testaments, sondern auch das komplette Neue Testament sowie zusätzlich zwei frühe christliche Bücher aus dem 2.Jahrhundert: den Barnabasbrief, der zuvor ausschließlich in der lateinischen Übersetzung bekannt war, sowie einen Großteil des Buches Der Hirte des Hermas, von dem Forscher bisher nur durch dessen Erwähnung in anderen Schriften wussten.

      Am nächsten Morgen versucht Tischendorf das Manuskript käuflich zu erwerben, die Antwort lautet jedoch Nein. Der Abt des Klosters erlaubt ihm einzig, das Manuskript zwecks Anfertigung einer Abschrift auszuleihen. Auf dem Rücken eines Kamels wird ihm das Manuskript nach Kairo gebracht, jedoch immer nur in Auszügen. Die Seiten sind in zusammengefalteten Stößen mit jeweils acht Bögen geordnet, wobei Tischendorf jeweils nur einen Stoß ausleihen darf. Mithilfe zweier anderer Deutscher, die sich zufällig in Kairo aufhalten und ein bisschen Griechisch können, einem Apotheker und einem Buchhändler, wird das komplette Manuskript von Hand abgeschrieben. Innerhalb von zwei Monaten erfassen sie 110.000 Zeilen mit griechischem Text.

      Heute befindet sich der Codex Sinaiticus nicht mehr im Katharinenkloster. Nach Tischendorfs drittem Besuch wurde das Manuskript anlässlich des tausendjährigen Jubiläums des russischen Imperiums dem Zaren von Russland als Geschenk vermacht. Der Zar war der oberste Schutzherr der orthodoxen Kirche, und dem Kloster war es daran gelegen, die Verbindung zu Moskau zu pflegen, um schmerzlich benötigte Mittel für den Erhalt der alten Gebäude zu bekommen. 1862 wurde der Codex Sinaiticus daher dem Zaren als Geschenk überreicht, und Tischendorf publizierte die erste gedruckte Ausgabe des Manuskripttextes. Im Gegenzug erhielt das Kloster vom Zaren sowohl wertvolle Gegenstände als auch Geld, unter anderem 7000 Rubel zur Erweiterung der Klosterbibliothek.

      Viele denken vermutlich, das Manuskript hätte dort verbleiben sollen, wo es herkam. Es waren die vielen Mönche im Osten, deren Namen wir nicht kennen, die über die vielen Jahrhunderte des Mittelalters hinweg in unfassbar mühevoller Schreibarbeit die heiligen Schriften auf Griechisch bewahrt haben. Heute jedoch sind es die großen Manuskriptsammlungen im Westen, die sich im Glanz der prächtigen Pergamentbücher sonnen. Das fühlt sich nicht richtig an.

      Gleichzeitig haben die westlichen Sammlungen und Museen eine enorme Arbeit geleistet, die alten Manuskripte zu untersuchen, zu beschreiben und zu bewahren und sie sowohl Forschern als auch anderen Interessierten zugänglich zu machen. So kann man sagen, Westen und Osten haben beide auf ihre Weise dazu beigetragen, dass wir heute Nutzen aus den alten Büchern ziehen können: Die Mönche im Osten verfügten über die Treue und den Fleiß, den griechischen Text über Jahrhunderte mit Kriegen und Katastrophen hinweg zu bewahren, während die Sammler im Westen über die Ressourcen verfügten, die Manuskripte in der Gegenwart zugänglich zu machen. Dieser gemeinsame Einsatz ermöglicht es, dass wir uns heute über diese Manuskripte freuen und sie Menschen zeigen können, die sich für Geschichte und die alten griechischen Bibeltexte interessieren.

      »Die Menschen zogen ihre Hüte, als sie zu dem Manuskript traten. Der bloße Anblick erfüllte sie mit Ehrfurcht.«8

      So reagierten die Menschen, als sie den Codex Sinaiticus in London zum ersten Mal sahen. Denn die Geschichte des Manuskripts endet nicht in Russland. Nach der russischen Revolution 1917 ist der sowjetische Staat nicht sonderlich an der Bibel interessiert, außerdem braucht man Geld. Kurz vor Weihnachten 1933 kauft das British Museum das Manuskript für 100.000 Pfund und stellt es unter strenge Bewachung. Zur Finanzierung des Kaufs trägt auch eine große Sammelaktion unter Privatpersonen bei. Die bekannten Textforscher des Museums, H.J.M. Milne und T.C. Skeat, analysieren die Handschrift gründlich und veröffentlichen 1938 ihre Ergebnisse. Der Codex Sinaiticus wird auf Mitte des 4.Jahrhunderts n.Chr. datiert. Noch heute gilt er als das älteste komplette Manuskript des Neuen Testaments. Er hat sogar eine eigene Internetseite bekommen (www.codexsinaiticus.org), wodurch sich jeder diesen unglaublichen Fund ansehen kann. Er ist beinahe 1700 Jahre alt, aber die Seiten sind noch immer gut erhalten. Auf der Internetseite sieht man auch, wie das verwendete Pergament hergestellt wurde und wie gegenwärtig an dem Manuskript geforscht wird.

      Was hat Konstantin von Tischendorf in dieser Nacht gesehen, als er das Manuskript allein studierte? Die alten Bögen vor ihm stammten aus einer großen Prachtbibel und waren aus feinstem Pergament, d.h. aus bearbeiteter Tierhaut. Pergament war das beständigste Schreibmaterial der Zeit. Im 4.Jahrhundert hatte es Papyrus als gängigstes Schreibmaterial abgelöst. Neuen Untersuchungen der British Library zufolge wurde der Großteil der Seiten des Codex Sinaiticus aus Kalbshaut hergestellt, was als feinstes Leder galt, während einige Seiten aus Schafsleder sind.

      Am auffälligsten jedoch ist die hohe Qualität des Pergaments. Die Bögen sind extrem dünn; alle sind zwischen 0,1 und 0,2 Millimeter dick, das Leder ist hell, gleichmäßig und fein. Es ist deutlich zu erkennen, dass bei der Herstellung des Buches die besten Pergamentbögen ausgewählt wurden, die aufzutreiben waren. Berechnungen zufolge war für die Fertigung der großen Lederbibel die Haut von etwa 360 Tieren vonnöten. Mit heutigem Geldwert gerechnet, muss allein das Pergament des Buches einen fünfstelligen Euro-Betrag gekostet haben.

      Die