Beim konkreten Todeszeitpunkt musste die Pathologin passen, zu sehr hatten ihr die meteorologischen Umstände ins Handwerk gepfuscht.
«Veronika, wir haben berechtigten Grund zur Annahme, dass der KB…» «Sorry, wenn ich dich unterbreche, J. R., der KB?»
«KB, Abkürzung von Kotzbrocken…», entgegnete Ritter, worauf allenthalben Gelächter ausbrach, «… dass der KB am Sonntagabend, 21. Januar zu Tode gekommen ist. Würdest du da widersprechen?»
«Nein, J. R., das ist sehr gut möglich. Wie kommt ihr darauf?», fragte Schuler und wurde umgehend kurz mit den Aussagen der Herren Kim und Rindlisbacher aufdatiert.
«Ich erspare euch weitere Details, die kriminaltechnisch nicht von Belang sind, sie stehen dann in meinem schriftlichen Bericht. Eine Überraschung habe ich für euch aber noch parat…»
«Nun mach es nicht so spannend, Frau Rechtsmedizinerin.»
«J. R., auf der linken Handinnenfläche konnte ich eine Telefonnummer entziffern, die von blossem Auge nicht mehr als solche zu erkennen ist. Und hiermit verabschiede ich mich von euch», sagte Veronika Schuler mit Schalk in den Augen. Doch die Pathologin beliebte nicht zu scherzen, im Gegenteil, sie stand auf und verliess ohne weiteren Kommentar – aber mit der rechten Hand ein V-Zeichen zeigend und einem breiten Grinsen den Raum –, während Ritter nach Luft schnappte.
«Das kannst du jetzt aber mit uns nicht machen! Was hat es mit dieser Telefonnummer auf sich? Verooonika!», schrie er ihr förmlich nach, durch die inzwischen bereits geschlossene Türe. Die übrigen Anwesenden schienen den Oscar-würdigen Auftritt des Chefs sichtlich zu geniessen, denn letztmals hatte man ihn vor drei Jahren ähnlich aufgewühlt erlebt, als er sich ebenfalls während einer Sitzung bewusst wurde, dass seine Eselsbrücke für Familiennamen nicht funktionierte und er Imobersteg mit Aufdermauer verwechselt hatte.
Kellerhals bereitete dem laufenden Spektakel ein Ende. «J. R., cool down. Alles Weitere kommt von uns, auch wem die Telefonnummer gehört.» Damit gab sich Ritter zufrieden, nicht ohne mit einem süffisanten Lächeln darauf hinzuweisen, dass Frau Schuler eine nette Retourkutsche zugute hatte.
«Also denn, Schöre. Vorher noch eine Frage: Wie kann eine Kugel, wenn aus kurzer Distanz abgefeuert, im Körper stecken bleiben?»
«Das versucht Veronika herauszufinden, das kann mit Schalldämpfer durchaus vorkommen. Es gäbe aber noch die Möglichkeit der vollen PET-Wasserflasche, die man sozusagen vor den Lauf steckt und die sowohl den Schall dämpft als auch das Projektil abbremst.»
«Jaja, habe ich auch schon gehört, ein bisschen sehr theoretisch, findest du nicht?»
«Da gebe ich dir recht, J. R.. Weil weder Herr Kim noch dieser Lukas Rindlisbacher einen Schuss gehört haben, gehen wir von einem ganz normalen Schalldämpfer aus. Jetzt aber zur Vergangenheit des Herrn Guseinow aus Uralistan. Da gab es doch vor einigen Jahren diesen gigantischen Dopingskandal, von dem Sportlerinnen und Sportler aus Russland und aus Uralistan betroffen waren.»
«Oh ja, ich erinnere mich», erklärte Ritter, der sich beruhigt hatte und sich im Stuhl zurücklehnte, «Guseinow war als Sportminister doch der eigentliche Drahtzieher dieses Staatsdopings in Uralistan. Im Gegensatz zu seinem russischen Kollegen hielt aber kein Präsident die schützende Hand über ihn, er verbrachte einige Zeit im Zuchthaus. Wie aber kommt dieser KB nach Bern?»
Eigentlich wäre jetzt vorgesehen gewesen, eine kurze Pause einzulegen, die aber aufgrund der «Telefonnummer-Bombe» verschoben wurde. Es war Eugen Binggeli vergönnt, der Runde das Geheimnis zu verraten. Die Nummer gehörte zu einer Wohnung am Kappelenring 7, in der laut der verantwortlichen Liegenschaftsverwaltung ein Karl-Heinz Becker gemeldet war, deutscher Staatsangehöriger, mit der Berufsbezeichnung «Spitzensportler» vermerkt. Erste Erkundigungen bei der Einwohnerkontrolle Wohlen – Hinterkappelen war Teil dieser flächenmässig grossen Gemeinde mit knapp 10 000 Einwohnern – hatten zu Beginn allerdings zu Unklarheiten geführt, weil der Wohlener Beamte weder Namen noch Adresse bestätigen mochte. Die beiden KTD-Leute hatten jedoch in der kurzen Zeit, die ihnen am frühen Morgen zur Verfügung stand, herausgefunden, dass die Bundespolizei Fedpol in die Niederlassung des Karl-Heinz Becker involviert war.
«Und was heisst das, Iutschiin?»
«Dass Herr Becker vielleicht gar nicht Herr Becker heisst.» «Zeugenschutzprogramm?»
«J. R., genau das ging Schöre und mir auch durch den Kopf.»
«Wie auch immer, ich weiss nichts davon, checke das aber mit Fedpol. Moser und Brunner, ab nach Hinterkappelen, subito! Stephan, in welcher Nummer wohnst du eigentlich?»
«8, das heisst aber nicht, dass ich Tür an Tür zu 7 wohne, die Nummerierung im Kappelenring ist das grösste Chaos, das man sich vorstellen kann. Viele ältere Bewohner sind froh, überhaupt wieder nach Hause zu finden. Hausnummer 52 befindet sich beispielsweise vor der 38 und so weiter. Keine Sau kommt draus, wie hier nummeriert wurde… Gäste, die erstmals zu mir finden, fluchen zuerst eine Runde. Aber das war ja nicht dein Anliegen. Elias, komm, wir machen uns auf den Weg. Wir melden uns.»
«Notfalls direkt in die Inforunde.»
«Deal.»
«Moment noch, ihr beiden!», schaltete sich Kellerhals dazwischen, «die ballistischen Untersuchungen haben ergeben, dass KB mit einer Walther P99 erschossen wurde, Und haltet euch fest: Mit dieser Waffe wurde bereits einmal ein Mord begangen, in Tomlija, der Hauptstadt Uralistans, Täter bis heute unbekannt.»
Kellerhals erzählte auch davon, dass man im untersten Teil der Böschung an einem Ast Faserspuren sichergestellt habe, die genauer untersucht würden, sie hätten jedoch die gleiche blaue Farbe wie die Daunenjacke des Toten.
Mit dieser Enthüllung hatte der KTD definitiv sein Pulver verschossen. Die Kollegen Moser und Brunner machten sich deshalb auf den Weg an den Wohlensee, Ursula Meister in Richtung Polizeikaserne Waisenhausplatz, Binggeli und Kellerhals zogen sich vorerst in ihr Reich zurück, sodass Ritter und Wälchli allein im Sitzungszimmer zurückblieben.
«J. R., Idee: Weil dieser Karl-Heinz Becker angeblich Spitzensportler ist – Magglingen ist ja nicht weit entfernt. Ich habe eine Kollegin dort oben beim Bundesamt für Sport, ich könnte mich vor Ort einmal umhören, ob dieser Karl-Heinz Becker beim Baspo bekannt ist.»
«Guter Vorschlag, Regula. Nun, ich könnte jetzt jammern, dass ihr mich für die Sitzung um 14.00 Uhr allein zurücklasst, aber damit kann ich umgehen. Nein, Spass beiseite, mach dich auf den Weg, vielleicht erfährst du ja Neuigkeiten, die du mir umgehend in die Sitzung telefonieren kannst.» «Mache ich. Vorher hätte ich aber noch einen Wunsch, weil du in Sachen Doping auf dem Laufenden bist und wir möglicherweise in diesem Dunstkreis ermitteln müssen, ich aber keine grosse Ahnung habe. Seit wann spricht man eigentlich in einer breiten Öffentlichkeit von Doping?»
«Mal sehen, ob ich das in geraffter Form sagen kann. Dann aber ab nach Magglingen, verstanden?»
«Verstanden.»
Ritter erzählte, dass es in den sechziger Jahren die Schwestern Tamara und Irina Press aus der Sowjetunion gab, höchst erfolgreiche Leichtathletinnen – nicht nur in den Kraftdisziplinen Kugelstossen und Diskus –, denen nachgesagt wurde, sie würden sich jeden Morgen rasieren (Rufname «The Press-Brothers»), weil sie für Frauen derart monströse Muskeln hatten. Ähnliches habe auch für Jarmila Kratochvilova aus der ehemaligen CSSR gegolten, seit 1983 (!) noch immer Inhaberin des 800-Meter-Weltrekords und, in der neueren Zeit, für Caster Semenya aus Südafrika. Zumindest bei den drei Erstgenannten sei klar: Da sei der oftmals launischen Natur zusätzlich nachgeholfen worden.
«Überhaupt