Wie nicht anders zu erwarten, waren die Auskünfte jener Aufenthalter, die an diesem Sonntagnachmittag im Camping anzutreffen waren, für Elias Brunner und Stephan Moser nicht sehr ergiebig. Das lag zum einen am Umstand, dass nicht alle Holzhütten belegt waren, aber auch daran, dass drei Mieter erst gestern eingecheckt hatten. Immerhin: Ein Koreaner, Herr Kim – mit seiner Frau in Europa unterwegs –, behauptete, am 21. Januar um 21.45 Uhr in der Nähe des Waldes ein Auto und laute Männerstimmen gehört zu haben, die aber kurz darauf verstummten. Das Auto fuhr nach seinen Angaben nach ungefähr zehn Minuten wieder weg, sicher aber noch vor 22.00 Uhr.
«Herr Kim, weshalb können Sie sich an Datum und Zeit so gut erinnern?», wollte Stephan Moser von Herrn Kim wissen, der fliessend Englisch sprach und alle Fragen mit asiatischer Zuvorkommenheit beantwortete. «Am Sonntagabend schaue ich immer die Frühnachrichten beim koreanischen KBS und die beginnen um 6.00 Uhr.»
«Und das wäre mit der Zeitverschiebung von acht Stunden 22.00 Uhr Schweizer Zeit am Vorabend. Könnte es aber nicht auch Montag oder Dienstag gewesen sein?»
«Nein, ich schaue die News nur am Montagmorgen, wenn wir im Ausland sind, auch wegen der Sportresultate vom Wochenende, vor allem beim Taekwondo. Das habe ich auch am letzten Sonntagabend gemacht. Eine Viertelstunde vorher bin ich vors Haus, um eine Zigarette zu rauchen, da habe ich das Motorengeräusch und die Stimmen gehört.»
«Und einen Schuss?»
«Nein, keinen Schuss.»
«Herr Kim, können Sie morgen Vormittag zu uns kommen, damit wir Ihre Aussagen protokollieren können? Das wäre sehr wichtig.» Mit dieser höflich formulierten Aufforderung überreichte Stephan Moser dem Koreaner seine Visitenkarte.
«Das mache ich. Kann ich bereits um halb acht kommen, damit Frau Kim und ich unseren Ausflug nach Montreux wie vorgesehen machen können?»
Das Campingareal des TCS in Bern-Eymatt.
Mit «Ja, gerne. Danke, Herr Kim, Sie haben uns sehr geholfen» verabschiedeten sich Brunner und Moser praktisch synchron, um sich auf den Weg zum Clubhaus des Rowing Clubs zu begeben.
«Stephan, kein Schuss. Was schliessen wir daraus, falls der Koreaner Ohrenzeuge war, was ich durchaus glaube?»
«Genau das ging mir auch durch den Kopf. Für mich ist unwahrscheinlich, dass man diesen Fettwanst zum Bootshaus getragen hat. Also ging man mit ihm dorthin, aus welchen Gründen auch immer. Und dort: Schalldämpfer, Sturz in den See. Würde sich auch mit der Version von Herrn Lüthi decken.»
«Ich teile deine Ansicht. Mal sehen, was das IRM rausfindet. Übrigens, unter uns beiden: Wie geht es dir denn?»
«Elias, es geht so. Mal besser, mal weniger gut. Weisst du, Dolores hat mich ja nicht Knall auf Fall verlassen, wir haben oft über dieses Stellenangebot beim Aussenministerium in Madrid gesprochen. So wie es aussieht, kann sie demnächst als Handelsattachée an eine spanische Botschaft nach Übersee wechseln.»
«Habt Ihr noch Kontakt?»
«Ja sicher, fast jeden Tag, wir haben uns ja in aller Freundschaft getrennt. Sie hat sich den Entscheid nicht leicht gemacht. Aber eine Fernbeziehung macht keinen Sinn, wir haben es versucht. Así es la vida, so ist das Leben. Sicher ist, dass ich demnächst aus der Wohnung im Kappelenring ausziehen werde, zu viel erinnert mich an sie.»
«Schon etwas in Aussicht?»
«Elias, du bist ja neugieriger als Regula … Ja, ich habe mir letzte Woche eine Wohnung beim Le-Corbusier-Platz angesehen, ich werde sie wohl nehmen. Dreieinhalb Zimmer, unmittelbar neben dem Freizeit- und Einkaufszentrum Westside gelegen.»
«Und gleich neben dem Alterswohnheim Senevita für die langfristige Lebensplanung.»
«Elias, du bist ein Lööli… Dolores lässt euch übrigens herzlich grüssen. Aber Schluss mit der Diskussion, da kommt Regula daher.»
Hier, beim Le-Corbusier-Platz im Westen von Bern, wird Stephan Moser wohl in eine Wohnung einziehen.
Regula Wälchli hatte nach ihren Erkundigungen beim Ruderclub nichts Greifbares zu vermelden. Sie erzählte davon, per Zufall auch noch mit Caroline Burri gesprochen habe, die praktisch vis-à-vis des Fundorts eine Praxis als Podologin betrieb, nach eigenen Angaben dort noch schnell etwas holen musste und die Gelegenheit für einen Spaziergang nutzte. Aber auch Burri konnte keine aussergewöhnlichen Beobachtungen vermelden.
Elchin Guseinow und Karl-Heinz Becker. Montag, 29. Januar.
Die Medien hatten an diesem Montag, 29. Januar in ihrer bekannten Art vom Leichenfund berichtet, die einen auf der Titelseite, andere wiederum im Lokalteil. Immerhin: Grosse Spekulationen rund um die Tatumstände gab es keine.
«Gibt es Erkenntnisse für unsere Infowand?», wollte Joseph Ritter wissen. Es war 7.05 Uhr, zehn Minuten zuvor hatte sich das Team im Ringhof eingefunden. Regula und Elias hatten es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, Gipfeli von Beck Glatz an der Mittelstrasse mitzubringen, der Chef seinerseits betreute die Nespressomaschine und war für genügend Kapseln besorgt. Für die morgendliche Verpflegung gab es eine Kaffeekasse, aus der auch die Gipfeli bezahlt wurden, als Finanzminister amtete Stephan Moser.
«Ja, ein koreanischer Tourist hat vermutlich die Tat mitgehört. Er kommt in einer …»
«Moment mal, was heisst… mitgehört, Stephan?», fragte Ritter nach, Moser erklärte den Sachverhalt. Ritter schrieb Stichworte dazu auf die Infowand.
«Danke. Was wolltest du noch sagen?»
«Herr Kim kommt in ungefähr einer halben Stunde vorbei, damit wir seine Aussagen protokollieren können. Der Polizeiposten in Hinterkappelen ist ja nicht immer besetzt, nur Montag und Donnerstag von 16 bis 18 Uhr. Oder nach Vereinbarung.»
Ritter wollte gerade mit Fragen zu weiteren neuen Erkenntnissen – die es bekanntlich noch nicht gab – weiterfahren, als sich sein Galaxy S9 mit dem AC/DC-Song meldete. Sehr rasch war klar, dass es um ein wichtiges Gespräch ging, setze sich Ritter doch an sein Pult, schrieb mit, wiederholte nur Stichworte. Sein Team unterhielt sich in dieser Zeit im Flüsterton. Nach knapp fünf Minuten bedankte sich Ritter bei einem «Herr Rindlisbacher» für seinen Anruf und bat ihn, «noch heute Nachmittag zwischen 16 und 18 Uhr beim Polizeiposten Hinterkappelen vorbeizugehen und seine Angaben protokollieren zu lassen. Ich werde die Kollegen informieren.»
«Strix aluco sei Dank», erklärte er den drei Anwesenden.
«Hä?» Moser sprach aus, was Wälchli und Brunner ebenfalls auf den Lippen lag.
«Das ist der lateinische Ausdruck für den Waldkauz. Ein Ornithologe ist Fan des Waldkauzes.»
«Sehr schön für ihn. Und was hat das mit uns zu tun?»
«Stephan, dieser Lukas Rindlisbacher wohnt im obersten Stockwerk des Hochhauses Kappelenring 13. Und von dort aus beobachtet er unter anderem das Verhalten eines Waldkauzes.»
Noch immer verstand das Team nur Bahnhof, sodass der Chef Klartext sprach. Lukas Rindlisbacher hatte heute Morgen in der «Berner Zeitung» den Aufruf der Polizei nach möglichen Zeugen gelesen. Ihm kam dabei eine Beobachtung des