«Und? Haben sie jemanden zum Ufer getragen?», wollte Elias Brunner wissen.
«Mehr hat er nicht beobachtet.»
«Weil der Vogel seinen Vogel verfolgt hat, seinen Strix-weiss-nicht was?» «Nein, weil seine Frau ihn vom Balkon geholt hat, er würde sich sonst erkälten.»
«Super, liebe Frau Rindlisbacher, grossartig! Sie haben uns damit sehr geholfen!», rief Moser ironisch.
Eine Erkenntnis indes gab es: Der Fundort der Leiche eine Woche später spielte am Abend des Sonntags, 21. Januar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine zentrale Rolle beim Verbrechen. Just im Moment dieser Erkenntnis klopfte es an der Türe. Es war Claudia Lüthi, Mitarbeiterin im Ringhof, Herrn Kim samt Gattin im Schlepptau.
Ritter bedankte sich bei Claudia Lüthi und begrüsste Herrn und Frau Kim, stellte der guten Ordnung halber alle Mitglieder des Teams vor, obwohl Herr Kim die Kollegen Moser und Brunner bereits kannte. Der Leiter des Dezernats Leib und Leben führte das Gespräch gleich selber, bat Herrn Kim «zuhanden des Protokolls» seine gestrigen Aussagen zu wiederholen, dabei sei jedes Detail wichtig.
Mitten im Gespräch klopfte es an der Türe, wiederum war es Claudia Lüthi, die sich mit entschuldigenden Worten an den Koreaner richtete. «Herr Kim, Sie haben Ihren Wagen ungünstig parkiert, eine unserer Patrouillen kann nicht ausfahren.» Herr Kim machte sich sofort auf den Weg, um das Auto umzuparkieren. Unterwegs fragte er die durchaus Englisch sprechende Claudia Lüthi, weshalb sie wisse, dass es sein Fahrzeug sei.
«Herr Kim, wir sind hier bei der Polizei…», lachte Lüthi. Sie verschwieg dabei den Umstand, dass der Seat ein SH-Kennzeichen hatte, ein untrügliches Zeichen für Mietwagen, ähnlich wie bei AI.
Fünf Minuten später kam Herr Kim zurück. Er entschuldigte sich für sein Versehen. In der Zwischenzeit hatte Joseph Ritter Frau Kim einige Tipps für Sehenswürdigkeiten auf dem Weg nach Montreux gegeben: La Maison du Gruyère und das Musée HR Giger in Gruyères, La Maison Cailler in Broc. Frau Kim gab sich entzückt, zumal Ritter erwähnte, dass er selber drei Jahre in Korea verbracht hatte, als Sicherheitsberater bei den US-Streitkräften, genauer gesagt bei der Luftwaffe der United States Airforce USAF. Noch bevor Ritter Herr Kim weiter befragen konnte, wurde Herr Kim von dieser Neuigkeit durch Frau Kim ins Bild gesetzt; zur grossen Freude beider, zumal Ritter noch einige Sätze Koreanisch sprach.
Herr Kim wiederholte im Ringhof genau jene Aussagen, die er gestern schon gemacht hatte. Diese deckten sich durchaus mit den Beobachtungen von Vogelbeobachter Erich Rindlisbacher. Herr Kim unterschrieb das Protokoll, worauf Ritter ihn und Frau Kim gegen 7.50 Uhr zum Ausgang begleitete. Regula Wälchli vervollständigte währenddessen die Angaben auf der Plexi-Infowand, auch als Vorbereitung auf die Infositzung von 8.00 Uhr mit Kommunikationskollegin Ursula Meister und den beiden Herren des KTD. Getreu der Redewendung «Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt» klopfte völlig unerwartet Veronika Schuler an die Türe. Ungewohnt deshalb, weil die Rechtsmedizinerin ihre Erkenntnisse normalerweise per Telefon mitteilte. Einige Augenblicke später kehrte Ritter ins Büro zurück, sich demonstrativ die Augen reibend, als er Veronika Schuler erblickte.
«Wow! Ich hoffe, das ist kein schlechtes Zeichen, dich hier zu sehen. Darf ich ehrlich zu dir sein: Veronika, du siehst übermüdet aus.»
«Ich bin auch ehrlich mir dir, J. R., ich komme direkt aus dem Institut, habe durchgearbeitet und lege mich nachher aufs Ohr. Aber ich habe Neuigkeiten. Den KTD habe ich vor einer Stunde informiert. Gut möglich, dass Iutschiin und Schöre später weitere News haben.»
«Danke, Veronika. Ich schlage vor, dass wir uns ins Sitzungszimmer verziehen, der KTD und die Kommunikation kommen jeden Moment. Geht ihr alle schon mal vor, ich komme mit dem Flipchart nach.»
Etwas hatte sich im Laufe der Zeit(en) nicht verändert: Alle zur Sitzung aufgebotenen Verantwortlichen erschienen auch heute pünktlich. Bei diesem Treffen ging es nicht nur um neue Erkenntnisse im Fall Wohlensee, sondern um die Vorbereitung zur grossen Inforunde um 14.00 Uhr, mit dem Staatser, mit Polizeikommandant Christian Grossenbacher und mit der zweiten Kommunikationsfachfrau, Gabriela Künzi. Es war unschwer zu erraten, wer sofort das Wort erhielt. Joseph Ritter wollte nämlich bewusst die Aussagen von Herrn Kim und Lukas Rindlisbacher zurückhalten und sie erst nach den Ausführungen der Rechtsmedizin bekannt geben. Er war gespannt, ob sich die bisher beobachteten Ereignisse am Abend des Sonntags, 21. Januar mit den Aussagen von Veronika Schuler deckten.
«Ich falle sogleich mit der Türe ins Haus», begann Schuler nun, «unser Toter heisst Elchin Guseinow. Er stammt ursprünglich aus Tomlija, der Hauptstadt von Uralistan. Seine DNA ist in der internationalen Datenbank gespeichert. Ich denke, dass der KTD euch weitere Informationen zu diesem Guseinow geben kann, weshalb ich mich auf meine Erkenntnisse bei der Virtopsy und der zusätzlich durchgeführten Autopsie beschränke.» Als Virtopsy, fuhr Schuler fort, werde ein forensisch-medizinisches Verfahren bezeichnet, das einen Grossteil der herkömmlichen Obduktionen (Autopsien, Leichenöffnungen) durch ein minimalinvasives Vorgehen ersetzen solle. Initiiert worden sei das Forschungsprojekt mit dem Namen Virtopsy Ende des vergangenen Jahrhunderts unter der Leitung von Richard Dirnhofer am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern.
«Ehrlich gesagt, ich habe gestaunt, dass man Guseinow überhaupt erschiessen musste», sagte Veronika Schuler zur Verwunderung der Anwesenden. «Er war bis zum Rand hin voll mit Kokain und einem eigentlichen Medikamentencocktail, vor allem Anapolon, das primär in Bodybuilderkreisen verwendet wird. Ich behaupte, ein Ross hätte das alles nicht überlebt.» Veronika Schuler erklärte daraufhin die Wirkung von Anapolon.
«Anapolon ist eines der stärksten und effektivsten Steroide. Es kann zu extremen Kraft- und Massezunahmen in kürzester Zeit kommen. Eine Zunahme des Körpergewichts von fünf bis sieben Kilogramm in sehr kurzer Zeit ist keine Seltenheit. Dabei kommt es zu einer erheblichen Wassereinlagerung, die den Muskelumfang schnell erhöht. Durch Anapolon wird auch Wasser in den Gelenke eingelagert, was ein nicht unerheblicher Faktor für die enorme Kraftzunahme ist und zum anderen auch ein schmerzfreies Training trotz Gelenkproblemen ermöglicht. Anapolon vermehrt die Zahl der roten Blutkörperchen, wodurch der Muskel mehr Sauerstoff aufnehmen kann. Dadurch wird dieser ausdauernder und leistungsfähiger. Der Steroid-Pump tritt durch Anapolon schnell ein und vermittelt während des Trainings ein gutes und angenehmes Gefühl. Eine ausreichende Dosierung liegt bei ein bis zwei Milligramm pro Kilo Körpergewicht täglich. Da Anapolon sehr schnell einem Anpassungseffekt unterliegt, empfiehlt es sich, die Einnahmedauer von fünf bis sechs Wochen nicht zu überschreiten. Anapolon ist kein Steroid für Anfänger und sollte erst von Athleten mit einem gewissen Entwicklungsstand genommen werden.
Anapolon ist auch eines der schädlichsten Steroide. Nebenwirkungen: Schlaflosigkeit, Nierenfunktionsstörungen, Magenschmerzen, erhöhte Leberwerte, Durchfall, Gelbsucht, Erhöhung des Blutdruckes, starke Akne, Haarausfall, Kopfschmerzen, Potenzstörungen, Übelkeit, Erbrechen, sehr toxisch für die Leber», schloss Schuler und fuhr gleich fort: «Erschossen wurde er mit einer 9-mm-Pistole, der KTD hat das Geschoss zur Untersuchung erhalten. Schöre, habt ihr bereits ein Ergebnis?»
«Ja, aber wir fassen erst nach deinen Erkenntnissen zusammen.»
«Der Schusskanal, schräg von unten nach oben, und Schmauchspuren an der Leiche lassen den Schluss zu, dass der Mörder weiter unten in der Böschung stand als das Opfer. Verschiedene Kratzspuren deuten darauf hin, dass der Ermordete danach die Böschung hinuntergefallen ist.»
«Was ist mir den Narben, die du gestern erwähnt hast?»
«Nur nicht so hastig, J. R., alles schön der Reihe nach. Also ja, Guseinow hatte verschiedene