Das Gleiche gilt für das so genannte Ende aller Dinge. Wir können nichts einfach beenden. Keine Beziehung, kein Projekt, keine Gewohnheit. Natürlich können wir uns scheiden lassen oder einen Abschlussbericht schreiben. Doch die Vergangenheit ist damit nicht abgeschlossen. Wir können Tote begraben, doch sie leben in unseren Gedanken und Herzen weiter.
Schlussstriche sind oft sehr trügerisch. Wir können der Vergangenheit nicht entrinnen, indem wir sie für beendet erklären. Wir können uns ihr aber stellen, sie tiefer verstehen und damit gute Bedingungen schaffen, damit sich Negatives nicht reflexhaft wiederholt.
Die Ideen von Anfang und Ende können einen solchen Verständnisprozess behindern.
Wenn wir uns der Anfangslosigkeit unserer Taten bewusst werden, können wir Dankbarkeit entwickeln. Wir sehen, wer alles zu unserem Erfolg beigetragen hat, und beanspruchen ihn nicht für uns allein. Wir werden bescheidener. Misserfolge nehmen wir gelassener, denn wir sind nicht allein verantwortlich. Unser Machbarkeitsglaube schwächt sich ab.
Wenn wir uns der Endlosigkeit unserer Taten bewusst werden, wächst unser Verantwortungsbewusstsein. Wir sehen, dass wir die Konsequenzen unserer Taten erben werden. Ein Körper, den wir heute schinden, wird uns in der Zukunft den Dienst verweigern. Wir erben immer. Manchmal sofort, manchmal erst nach vierzig Jahren. Und manchmal erben oder ernten erst unsere Nachkommen die positiven oder negativen Früchte unseres Lebens. Alles, was wir tun, wird in unserem Leben Konsequenzen haben. Seien es Worte oder Taten. Selbst unsere Gedanken sind nicht beliebig und ohne Konsequenz. Sie bereiten den Boden für unsere physischen Taten und Worte. Diese Einsicht macht uns behutsamer im Umgang mit uns selbst und anderen.
Das alles bedeutet nicht, dass es nicht sinnvoll wäre, Start- und Endpunkte zu definieren. Kick-off-Meetings, Hochzeiten, Jubiläen oder Beerdigungen bündeln Energie und richten unser Bewusstsein aus. Sie sind sinnvolle Stoppzeichen im Strom der Ereignisse, geben Orientierung und sind immer auch eine Gelegenheit für Slowing down. Solche Rituale sind Zeitfahnen, sie sind Zeichen am Wegesrand.
Die Realität ist ununterbrochene Kontinuität.
Haltepunkte
… am Anfang eines neuen Projekts
… wenn Sie zu häufig »Ich« sagen
… wenn Krieg in Frieden oder Frieden in Krieg überzugehen scheint
1Meditation über Anfang und Ende: Legen Sie zehn Fotos aus unterschiedlichen Lebensphasen vor sich auf einen Tisch. Auf dem einen sind Sie vielleicht als Säugling zu sehen, auf dem nächsten als Kleinkind, dann mit der Schultüte, der ersten Freundin oder dem ersten Freund, im freiwilligen Jahr, an der Universität etc. Je älter Sie sind, desto weiter wird das Spektrum dieser Bilder sein. Von jedem dieser Fotos ist das Leben weitergeflossen. Was haben der Säugling und die dreifache Mutter gemeinsam? Wo endet der Teenager, wo beginnt der Student? Sind Sie jemand anders? Versuchen Sie das Band, das zwischen diesen Fotos besteht, zu sehen. Versuchen Sie, gleichzeitig die Kontinuität und die Veränderung zu sehen. Legen Sie an den linken Rand Bilder Ihrer Eltern. Wo beginnen Sie, wo enden Sie jetzt? Legen Sie an den rechten Rand Bilder Ihrer Kinder oder Dinge, die Sie in diesem Leben hervorgebracht haben. Geistige Kinder, Zeichnungen oder anderes, was Sie vielleicht überdauern wird. Schauen Sie sich die gesamte Kette an.
2Nehmen Sie sich etwas, was Sie abgeschlossen haben. Ist es wirklich zu Ende? In welcher Form ist das Beendete auch heute noch in Ihrem Leben präsent?
3Denken Sie über den Zweiten Weltkrieg nach. Dieser Krieg ist seit 1945 offiziell beendet. Schreiben Sie auf, in welcher Form dieser Krieg auch heute noch in Ihren Gedanken, Worten und Gefühlen weiterlebt.
Der vierte Schlüssel: Entwicklung
Alle Dinge unterliegen einem individuellen Entwicklungsprozess, der für jedes Objekt eine spezifische Eigenzeit hat. Das »Ergebnis« dieses Prozesses ist Reife.
Was bezeichnen wir als Entwicklung? Auf der Ebene des Einzelnen bezeichnet Entwicklung einen Prozess, der zur Vertiefung unseres Bewusstseins und unserer Bewusstheit führt. Je weiter diese Entwicklung voranschreitet, desto tiefer verstehen wir uns selbst und die Welt, die uns umgibt. Dabei entfaltet sich unser Bewusstsein unter günstigen Bedingungen kontinuierlich. Bei Kindern können wir den Wechsel verschiedener Entwicklungsstufen noch relativ gut erkennen. Im Erwachsenenalter laufen Entwicklungsprozesse hingegen subtiler ab und sind schwerer zu beobachten. Wird unsere Entwicklung blockiert, kann unser Leben in die Krise geraten.
Die buddhistische Psychologie sieht unser Bewusstsein als einen Garten an, den wir zu pflegen haben. In diesem Garten verbergen sich verschiedene Samen. Samen der Freude, der Achtsamkeit, der Wut und viele andere mehr. Jeder einzelne dieser Samen hat seine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit und braucht speziellen Dünger wie Geduld oder Aufmerksamkeit, um sich zu entfalten. Für diese Entwicklungslogik gilt es innerhalb von Slowing down ein Gefühl zu entwickeln. In uns beginnt eine Idee oder ein Entschluss zu wachsen und zu reifen. Eine Bekanntschaft entwickelt sich in eine Freundschaft. Durch geschicktes Gärtnern schaffen wir günstige Bedingungen für die harmonische Entwicklung unseres Bewusstseins und unserer Beziehungen.
Sind wir gute Gärtner? Geben wir uns, unseren Kindern, unseren Projekten und Mitarbeitern die nötige Zeit und günstige Rahmenbedingungen zu Reifung und gesunder Entwicklung? Vieles in unserer Gesellschaft ist unreif. »Ich habe alles zu früh gemacht«, bekennt die französische Schauspielerin Sophie Marceau, die als Teenager mit dem Film »La Boum« weltbekannt wurde. Alles immer früher zu tun, das ist ein Credo unserer Zeit. Die kollektive Ungeduld ist groß. Viele Produkte in der Computerbranche werden nicht mehr bis zur Marktreife entwickelt, sondern den Anwendern unreif zugemutet. Wir wollen nicht warten, sondern bereits heute die Früchte einer Entwicklung genießen, die noch gar nicht stattgefunden hat oder vielleicht nie stattfinden wird. Sei es in unseren Beziehungen, unserem Beruf oder an der Börse.
Zu reifen bedeutet nicht, stehen zu bleiben. Reifen heißt geduldig Phase für Phase zu durchlaufen. Unsere Fähigkeiten veredeln sich durch Übung und gipfeln in Meisterschaft. Wir zwingen uns und andere nicht, die eigenen Grenzen zu überschreiten.
Entwicklung ist immer auch Abschied. Das, was früher vertraute Heimat war, muss aufgegeben und verlassen werden. Vorurteile, Meinungen, Theorien überleben sich. Arbeitsverhältnisse und Beziehungen, die uns keine Entwicklungschance mehr bieten können, lockern sich und lösen sich vielleicht mit der Zeit auf.
Entwicklung findet im Wechsel von Tun und Lassen statt. Im chinesischen Weisheitsbuch I Ging kennt man die Bilder des Rückzugs, des Wartens und der Sammlung. Sie bezeichnen Zustände des bewussten Lassens, des Nicht-Tuns. Ohne diese Phasen ist eine ausgewogene Entwicklung nicht denkbar. Neue Erfahrungen harmonisch in unser Leben zu integrieren, geht nur mit Zeit.
Entwicklung braucht Vorbilder. Ohne inspirierende Menschen ist es schwieriger, unser eigenes Potenzial zu sehen und zu entwickeln. Es ist eine große Freude und ein wertvolles Geschenk, hoch entwickelte, weise Menschen zu kennen und von ihnen zu lernen. Sie können uns den Weg weisen.
Wir sollten behutsam sein, was wir in unserem Leben heranreifen lassen. Wir tragen nicht nur positive Samen in uns. Als Gärtner unseres Bewusstseins gilt es, negative Samen zu erkennen und ihre weitere Verbreitung einzuschränken. Positive Samen wie Achtsamkeit oder Konzentration zu nähren und negativen Samen wie Gier oder Ungeduld nicht zu viel Energie zu schenken, ist integraler Teil unserer Entwicklung.
Fragen Sie sich, in welche Richtung sich Ihr Leben entwickeln soll und wie Sie hierfür günstige Rahmenbedingungen schaffen können. Was fehlt? Was ist schon da?
Aus der Entwicklungsperspektive