Diese fünf Schlüssel zu Slowing down werden uns durch das gesamte Buch begleiten. Daher möchte ich Sie bitten, für einen Moment innezuhalten. Blättern Sie bitte zurück und lesen Sie noch einmal langsam die kursiv gedruckten Definitionen der fünf Schlüssel. Machen Sie bitte nach jedem Absatz eine kurze Pause. Welche Rolle spielt dieser Schlüssel heute in Ihrem Leben? Welche Gefühle löst er aus? Blättern Sie bitte zurück.
Wenn wir diese fünf Leitideen mit Respekt und liebevollem Vertrauen in unserem Leben einsetzen, öffnet sich das Tor zu Slowing down und eine umfassende Entdeckungsreise beginnt. Wir sehen keine anderen Dinge, sondern sehen die Dinge anders. Unser Verständnis von Zeit revolutioniert sich.
Mithilfe der fünf Schlüssel durchdringen wir die Tiefendimension von Zeit und Geschwindigkeit. In dieser tiefen Auseinandersetzung liegt der wesentliche Unterschied zum Zeitmanagement. Zeitmanagement beantwortet uns einige wichtige Fragen: wie wir unseren Tag strukturieren, wie wir Freiräume für ungestörte Arbeit gewinnen, wie wir konsequent unsere Ziele verfolgen können und Prioritäten setzen. Zeitmanagement bricht allerdings nicht mit unserem grundsätzlichen Zeitverständnis. Es bleibt in einem Dogma verhaftet, das Zeit als Ressource betrachtet, die es zu nutzen oder eben zu managen gilt. Zeit und Leben werden getrennt. Zeit wird der Erreichung von Zielen untergeordnet.
Slowing down geht einen anderen Weg. Es zeigt auf, dass sich hinter Anspannung, Atemlosigkeit und Hektik nicht ein falscher Zeitplan verbirgt, sondern ein eingeschränktes Verständnis von Zeit. Zeitmanagement optimiert die Oberfläche unseres Zeitproblems, Slowing down hilft uns, unsere Lebenszeit anders zu erleben und damit unseren Umgang mit Zeit auf einer tiefen Ebene zu verändern. Natürlich werden wir auch weiterhin Terminkalender führen und Entscheidungen über Prioritäten treffen. Slowing down schließt Zeitplanung nicht aus, sondern integriert sie. Wenn wir hingegen traditionelles Zeitmanagement als Schlüssel zur Lösung unserer Zeitprobleme betrachten, sind wir in Gefahr, weniger statt mehr Freiheit im Umgang mit Zeit zu erlangen.
Der erste Schlüssel: Gegenwärtigkeit
Das Leben findet nur im gegenwärtigen Augenblick statt und nicht in der Zukunft oder Vergangenheit.
Im Deutschen haben wir den schönen Begriff der »Geistesgegenwart«. Jemand, der geistesgegenwärtig ist, tut in einer Situation, in der andere blockieren oder in Aktionismus verfallen, genau das Richtige. Sein Geist ist völlig präsent, ist unabgelenkter Teil des Geschehens und kann so genau beobachten, was passiert. Im Zustand völliger Geistesgegenwart ist jegliches unnütze Denken und jegliche fruchtlose Spekulation ausgeschaltet. Das setzt enorme Energien frei. Geistesgegenwärtig zu sein, bedeutet, fest im gegenwärtigen Moment verankert zu sein. Wir tun das, was wir tun, mit voller Aufmerksamkeit. Manche Menschen begeben sich in extreme Situationen, um diesen Zustand zu erreichen. Sie betreiben Sportarten wie Freeclimbing, in denen absolute Fokussierung notwendig ist, um nicht abzustürzen. In solchen Situationen fällt alles Überflüssige weg und wir sind ganz gegenwärtig. Dieser Zustand ist so befreiend, dass er uns süchtig machen kann und in immer neue Grenzsituationen treibt.
Doch es geht darum, Gegenwärtigkeit mitten im Alltag zu kultivieren. Dies können wir mithilfe der Achtsamkeitsmeditation erreichen. Durch die systematische Beobachtung unseres Atems, unseres Körpers, unseres Geistes und unserer Umgebung erweitern wir Schritt für Schritt unser Bewusstsein darüber, was im gegenwärtigen Moment passiert. Das schwächt die Routinen und Gewohnheiten, um die unser Leben kreist, und schafft Raum für unmittelbares Erleben. Wenn wir essen, essen wir. Wir planen nicht gleichzeitig unsere nächste Woche – wir essen und schmecken mit großer Aufmerksamkeit, was wir da essen. Das schärft unsere Wahrnehmung und verbindet uns mit unserer Umgebung.
Während ich diesen Satz schreibe, spüre ich, dass mein Körper auf dem Sprung ist. Er will in die Küche, Kaffee trinken. Er wird zunehmend unruhig. Zur selben Zeit beobachte ich meine Gedanken. Auch sie drängen mich aufzustehen. Und ein leichtes Unbehagen ist da, das sich in den Gedanken übersetzt: »Darf ich mit Koffein im Blut über Slowing down schreiben?« Diese Beobachtung löst ein Lächeln aus. Welch ein interessanter Kampf zwischen Gier und Schuld! »Ja, ich bin gierig!« Ich nehme wahr, dass ich lächle. Mein Körper entspannt sich. Hätte ich den Zustand meines Körpers und Geistes nicht so genau beobachtet, mir wäre Wichtiges entgangen. Vielleicht hätte ich mit einem Schuldgefühl meinen Kaffee getrunken oder der innere Kampf hätte meinen Körper kontinuierlich verspannt. Was unbeobachtet bleibt, treibt uns an. Der achtsame Umgang mit unserer Lebenszeit bereichert unser Leben.
Immer wieder gilt es die Frage zu stellen, warum wir nicht genau jetzt, in der Gegenwart, glücklich sein können. Was fehlt uns? Was fehlt wirklich? Wir haben bereits so viele günstige Bedingungen in unserem Leben. Die meisten von uns erfreuen sich relativer Gesundheit, guten Essens, haben eine Wohnung oder ein Haus, Freunde, Familie, einen Arbeitsplatz … Was fehlt wirklich? Welche Gespenster verfolgen uns? Oder anders: Wenn wir unter diesen Bedingungen nicht glücklich sein können, wann dann? Die Antworten auf diese Fragen warten im gegenwärtigen Moment. Dort wartet nicht nur unsere Freude, sondern auch unser Schmerz. Die ganze ungeteilte Realität erwartet uns. Unverarbeitete Erlebnisse und Verletzungen. In der Gegenwart ist alles da und wir können diese Dinge betrachten statt vor ihnen davonzulaufen. Wenn wir der Realität so ins Auge sehen, verliert sie einen Großteil ihres Schreckens. Die Flucht hat ein Ende. Slowing down.
Je höher unsere Gegenwärtigkeit, desto genauer können wir hinsehen und desto weniger schreckt uns. Dieses Buch ist voller Ansätze, wie Sie sich in der Gegenwart verankern können. Viele kleine Übungen für den Alltag, die Ihnen helfen, bewusst zu stoppen und die Antriebskräfte Ihres Lebens zu erkennen.
Haltepunkte
… wenn Sie sich in Träumen verlieren
… wenn Sie ins Spekulieren geraten
… wenn es Ihnen schwer fällt zu lächeln
1Nehmen Sie Kontakt mit Ihrem Körper auf. Wie fühlt er sich JETZT an? Wo berührt er den Boden oder andere Objekte? Wie fühlen sich Ihre Schultern an? Beschreiben Sie den Zustand Ihres Körpers mit drei Adjektiven.
2Schreiben Sie auf, was Ihr Leben in diesem Moment glücklich, vollständig, ja perfekt machen würde. Was fehlt Ihnen, um genau jetzt glücklich zu sein?
Notieren Sie in einem zweiten Schritt alle positiven Umstände, die Ihr Leben in Ihrer gegenwärtigen Lebensphase unterstützen. Auch das scheinbar Selbstverständliche (Wohnung, Essen, soziale Absicherung etc.). Was ist alles bereits vorhanden? Lenken Sie während des Tages immer wieder Aufmerksamkeit auf die Dinge, die Sie unterstützen. Lächeln Sie ihnen zu.
Der zweite Schlüssel: Unbeständigkeit
Alles verändert sich immer und überall. Nichts bleibt, wie es ist. Keine Situation wiederholt sich.
Unbeständigkeit ist das Grundprinzip des Universums und gilt für alles, was in ihm enthalten ist. Vom kleinsten Quark bis zur größten Galaxie, vom kleinsten Baum bis zum höchsten Gebirge. Unbeständigkeit umgibt uns. Unbeständigkeit durchdringt uns. Wenn wir achtsam sind, können wir sie in jedem Moment unseres Lebens berühren.
Schauen Sie sich zehn Jahre alte Bilder Ihres Körpers an. Kaum eine Ihrer damaligen Körperzellen ist heute noch Teil Ihres Körpers. Beobachten Sie für einige Minuten in Stille Ihre Gedanken. Wie Seifenblasen steigen sie aus geheimnisvollen Tiefen auf, wiederholen sich vielleicht einige Male, um schon bald wieder zu vergehen.
Richten Sie nun bitte Ihre Aufmerksamkeit nacheinander auf jeden Ihrer fünf Sinne. Sehen. Riechen. Hören. Tasten. Schmecken. Beobachten Sie den steten Strom an Sinneseindrücken auf seinem Weg durch Ihr Bewusstsein. Folgen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit der steten Verwandlung all dieser Eindrücke, ohne etwas herauszugreifen oder zu