Der Schlüssel der Unbeständigkeit erinnert uns daran, dass wir unsere Vorstellungen immer wieder loslassen müssen, um frisch auf eine sich wandelnde Welt, sich entwickelnde Kinder, Kollegen oder Freunde zu blicken. Die Offenheit für diesen Wandel entspannt unser Leben auf einer tiefen Ebene. Denn jeder Eindruck, jede Idee oder Meinung, die wir festhalten wollen, steht zwischen uns und der Realität. Im Versuch, eine fließende Realität zu zementieren, müssen wir scheitern. Der bekannte Arzt und Stressmediziner Jon Kabat-Zinn beschrieb Schönheit und Schrecken der Unbeständigkeit:
An einem frühen Morgen paddle ich mit einem Kanu im Norden von Maine über einen See. Ich beobachte die Strudel, die das Paddel im stillen Wasser des Sees erzeugt. Sie drehen sich eine Zeit lang und verschwinden hinter mir. Diese Strudel sind nichts weiter als Wasser in Bewegung, eine Welle, getrennt wahrnehmbar. Als ich hinter mich schaue, sehe ich, dass sie sich rasch wieder auflösen. Die Energie ihrer Bewegung verliert sich im See. Infolge bestimmter Voraussetzungen, die der See und mein Paddel schaffen, tritt für einen Augenblick Form aus der Leere. Auch Lebewesen treten nur für wenige Augenblicke in Erscheinung, als scheinbar eigenständige Wesenheiten, die wir Körper nennen. Doch erscheint uns eine Person als mehr oder minder beständig, und dass sie irgendwann vergeht, überrascht uns und erfüllt uns mit Schrecken.
Einer der größten Antreiber in unserem Leben ist die Angst vor Veränderung, Verlust und Tod. Tiefes Slowing down ist nur zu haben, wenn wir anhalten und uns der Verletzlichkeit unseres Lebens stellen. Wenn wir dem Tod ins Gesicht schauen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama meditiert täglich über die Vergänglichkeit seines Körpers und seinen eigenen Tod. Das Ergebnis ist tiefe Freude am Leben und nicht Fatalismus. Was wir als vergänglich und zerbrechlich erkannt haben, dem begegnen wir mit erhöhter Wertschätzung und Respekt. Wir nehmen die Dinge nicht mehr so selbstverständlich.
Gleichzeitig schützt uns die Akzeptanz von Unbeständigkeit vor unnötigem Leiden. Häufig leiden wir an der Veränderung selbst wesentlich weniger als an unserer Angst und unserem Widerstand, der die Veränderung nicht wahrhaben will. Graue Haare tun nicht weh, doch wie viel unnötigen Schmerz durchleben Männer und Frauen, die nicht in Würde alt werden können?
Wie viel Energie wenden Nostalgiker auf, um eine längst versunkene Welt am Leben zu erhalten? Wir beginnen unnötig zu leiden, wenn wir über das notwendige Maß an Würdigung, Trauer und Abschied hinaus am Vergangenen festhalten. Gegen den Zahn der Zeit, den großen Umwälzer anzukämpfen, ist anstrengend und aufwändig. Wir können nicht die ganze Welt unter Denkmalschutz stellen, nur weil wir Veränderung nicht ertragen können.
Unbeständigkeit ist Schönheit. Die Schönheit eines Tropfens, der eine Fensterscheibe hinunterrinnt, sich mit anderen Tropfen vereinigt und weiterfließt. Ohne Veränderung wäre Leben unmöglich. Nichts könnte wachsen. Leben ist in jedem Moment das Aufgeben der aktuellen Form. Es ist ein Kaleidoskop, das ständig neue Bilder hervorbringt, und jedes hat seine eigene Schönheit.
Nehmen wir die kleinen Veränderungen, die ständig in und um uns herum stattfinden, bewusst wahr, freunden wir uns langsam mit der Unbeständigkeit an. Unser Leben gewinnt an Intimität. Wir werden freier, lassen locker und klammern uns nicht mehr so an Dinge oder Personen. Welchen Sinn macht es, einen Tropfen festhalten zu wollen? Unsere Präferenzen weichen auf. Nicht nur der Sommer, auch die anderen Jahreszeiten haben ihre Bedeutung und Schönheit. Wir sehen die Dinge frisch und lebendig. Der Mensch, der morgens neben uns aufwacht, ist nicht mehr der Mensch, der abends neben uns eingeschlafen ist. Wir müssen die Veränderung nur sehen.
Im Bewusstsein über die Unbeständigkeit aller Dinge zu leben, gilt im Buddhismus als Tor zur Befreiung. Kontemplieren wir regelmäßig über die Unbeständigkeit unseres Lebens, befreien wir uns schrittweise von unseren erstarrten Ideen, Überzeugungen und Gewohnheiten. Wir sehen, dass kein Sturm ewig anhalten kann. Wir befreien uns vom Druck, dass die Dinge so sein müssten, wie wir sie geplant oder erhofft haben.
Haltepunkte
… wenn Sie Zeit mit Kranken oder sehr alten Menschen verbringen
… wenn Sie sich innerlich starr oder angespannt fühlen
… wenn Sie Ihren Körper unter der Dusche betrachten
1Gehen Sie zwei Stunden spazieren und betrachten Sie die Welt mit den Augen der Unbeständigkeit. Versuchen Sie etwas zu finden, das beständig ist.
2Suchen Sie den Kontakt mit dem Vergänglichen. Achten Sie während eines Tages auf alle alten und kranken Menschen, die Ihnen begegnen. Versetzen Sie sich in ihre Lage. Sagen Sie sich: Auch ich werde alt werden.
Der dritte Schlüssel: Kein Anfang/kein Ende
Anfang und Ende lassen sich nicht objektiv festlegen. Alles, was existiert, hat seine Vorgänger und Nachfolger. Nichts kann aus sich heraus existieren. Keine Handlung bleibt ohne Folgen.
Betrachten wir eine alte Eiche. Sie produziert im Herbst eine große Anzahl an Eicheln, die zu Boden fallen, unter günstigen Bedingungen keimen, Wurzeln entwickeln und zu einer jungen Eiche heranwachsen. Wann hat das Leben dieser jungen Eiche begonnen? Als die Blüten der alten Eiche bestäubt wurden? Als die Eichel sich aus dem Mutterbaum löste? Als der Keim die Eichelschale durchstieß? Mit der ersten Wurzel oder dem ersten Blatt? Die Frage nach dem Anfang der jungen Eiche lässt sich objektiv nicht beantworten. Und so ist es mit allem, dem wir gern einen klaren Anfang zuordnen wollen.
Jeder Anfang ist lediglich gedankliche Definition, eine Vereinbarung. Leben beginnt nicht. Leben ist anfangslos. Das Leben eines Kindes entsteht nicht unabhängig von der Mutter. Mutter und Kind sind eins. Die Dinge beginnen nicht. Wir sind es, die Epochen oder Projekte definieren. Wenn wir genau hinsehen, hat nichts jemals begonnen und wird nichts jemals enden.
Warum betonen wir die Anfänge so? Weil wir uns als Individuen definieren, die weitgehend unabhängig von anderen durchs Leben gehen und die Dinge erschaffen, die uns umgeben. Wir behaupten: »An diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt habe ICH es begonnen.« Doch wie leicht lassen wir uns täuschen. Nichts entsteht aus dem Nichts. Ohne Eiche keine Eicheln. Alles, was sich zu etwas Neuem formiert, baut auf Gedanken, Worten und Taten der Vergangenheit auf.
Dieses Buch ist nicht aus dem Nichts entstanden, auch wenn ich mich in meinen stolzen Momenten als sein Schöpfer fühle. Ich habe mir dieses Buch nicht ausgedacht. Es ist ein Nachfolger ungezählter Gedanken und Worte bereits verstorbener und noch lebender Denker und Schreiber. Es ist keine Schöpfung eines autonomen, abgetrennten Geistes, sondern der Geist vergangener Zeiten fließt durch dieses Buch neu in die Gegenwart. Eingefärbt durch meine Erfahrungen. Kontinuität und Manifestation sind weitaus geeignetere Begriffe, um diesen Prozess zu beschreiben, als Kreation oder Schöpfung.
Meine Lehrer sind nicht tot und vergessen. Sie leben in meinen Worten weiter. Das ist die Essenz von kein Anfang/kein Ende. Wir stützen uns auf ein gewaltiges genetisches, biologisches und kulturelles Erbe, das wir durch unsere Taten geringfügig erweitern. Das könnte uns Grund zur Bescheidenheit geben.
Anfang und Ende festzulegen bedeutet immer Trennung. Wenn wir meinen, dass unser Leben mit unserer physischen Geburt begonnen hat und mit unserem physischen Tod endet, dann bleibt nur eine kurze Zeitperiode zum Leben übrig. Denken wir so, ist es kein Wunder, dass wir so viel wie möglich aus dieser kurzen Zeit herausholen wollen und dabei ins Rennen geraten. Je mehr wir uns hingegen mit unseren Vorgängern und Nachfolgern verbunden fühlen, desto entspannter wird unser Leben. Wir sehen, dass unsere Vorfahren in uns weiterleben,