Nach sechs Jahren der strengen Askese ist sich Prinz Siddhartha, der zukünftige Buddha, gewiss, dass nicht nur der Weg der meditativen Versenkung, sondern auch der Weg der Kasteiung – trotz seiner unendlichen Geduld und Ausdauer – nicht zur Befreiung führt. Es ist ihm nun ganz klar, dass weder Sinnesgenuss noch Selbst-Kasteiung gute Voraussetzungen sind, um Geist und Herz zutiefst zu entfalten. Er erinnert sich an eine Situation aus seiner Kindheit: Als sein Vater, der König, bei einem Ritual einen Acker pflügte, saß der Knabe im Schatten eines Rosenapfelbaumes. Dort wurde ihm eine Erfahrung tiefsten Friedens, höchster Präsenz und größter Offenheit zuteil. Die deutliche Erinnerung an diesen Augenblick ist es, die den Asketen schließlich dazu bewegt, die Selbstkasteiung aufzugeben und einen mittleren Weg zwischen den Extremen zu wählen. Er entschließt sich, wieder Nahrung zu sich zu nehmen, dem Körper Erholung zu gönnen, um wieder Kraft und Energie zu tanken.
Dies markiert einen weiteren konsequenten Schritt in seinem Leben. Er bricht mit einem selbst gewählten Praxis-Stil, dem in seiner Zeit in hohem Ansehen stehenden Weg der Askese. Der Bruch ist so radikal, dass die Schüler, die ihm damals folgen, ihn sogleich verlassen. Für sie ist er einer, der versagt hat und damit als Meister und Vorbild erledigt ist.
Immer wieder wagt der Buddha solche Schritte ins Unbekannte, und er tut es auch später in der Art, wie er lehrt. Auch das kann beispielhaft für uns sein. Auch wir müssen es immer wieder wagen, hinzuschauen, zu erforschen und zu prüfen: Sind die Dinge wirklich so, wie sie gelehrt werden, wie es die Tradition oder die Gesellschaft will, wie wir sie entsprechend unseren gewohnten Sichtweisen sehen? Folgen wir wirklich unseren eigenen tiefsten Erfahrungen, oder sind wir einfach Mitläufer? Das Wagnis, die Dinge zu hinterfragen, braucht aber nicht nur Mut, sondern auch außerordentliche Ehrlichkeit; Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Brechen wir eine Praxis ab und folgen einer anderen, weil sie uns zu anstrengend ist und wir hoffen, auf einfachere, mühelosere Weise ans selbe Ziel zu kommen? Oder weil wir zutiefst verstanden haben, dass dieser Weg für uns nicht hilfreich, nicht befreiend ist?
Der Weg der Erkenntnis: Vollständiges Erwachen, tiefster Frieden
Prinz Siddhartha nimmt nun wieder Nahrung zu sich und gelangt zu Kräften. Er setzt sich am Ufer des Niranjana-Flusses, in der Gegend des heutigen Bodhgaya, unter einen großen Baum und beschließt, nicht eher von seinem Sitz aufzustehen, bis er das Dasein in seiner ganzen Tiefe verstanden hat.
In tiefste Meditation versunken erkennt er den Kreislauf von Geburt, Tod und Leiden, den die Lebewesen endlos durchlaufen – von Verlangen getrieben, durch Anhaften gefesselt. Er durchschaut den Prozess des abhängigen Entstehens dieses vergänglichen Daseins und erkennt die Möglichkeit tiefster Befreiung durch das endgültige Versiegen des Durstes nach Existenz, durch die Erkenntnis des Unerschaffenen, Todlosen – Nirvana.
Es ist in dieser Nacht, dass Mara seinen Großangriff startet. Mara ist der mächtige Gott des »Bösen«, des Unheilsamen und Leidschaffenden, die Verkörperung aller schwierigen Energien und Kräfte des Herzens, der Täuschung, der Begierde, des Hasses. In traditionellen Bildern werden Maras Eigenschaften als Dämonen, als scheußliche Kreaturen, als Wilde personifiziert, die mit Speeren, Bogen und Kriegsbeilen auf den zukünftigen Buddha losstürmen, wobei dieser furchtlos inmitten aller Angriffe dasitzt – offen, gelassen, in innerer Balance.
Doch schickt Mara auch seine verführerischsten Kräfte in die Schlacht: Gier, Verlangen, Anhaften an Vergnügen, an Sinneslust, an Erfolg und Ehre, Festhalten an all dem, was wir meinen, unbedingt zu brauchen. Aber des zukünftigen Buddhas Haltung bleibt die gleiche: Anstatt sich mit den Verlockungen zu identifizieren, sich darin zu verlieren, ruht er in unerschütterlicher Offenheit und innerer Balance.
Als letzte Waffe setzt Mara den Zweifel ein. Er zweifelt das Recht des zukünftigen Buddha an, den Platz des Erwachens einzunehmen. Er zweifelt sein Recht auf innere Freiheit, auf vollständiges Erwachen an. Manche Statuen zeigen den Buddha, wie er mit der rechten Hand die Erde berührt. Damit ruft er die Göttin Erde als Zeugin dafür an, dass er in Hunderten vergangener Leben die heilsamen Qualitäten seines Geistes und Herzens zur Vollkommenheit entwickelt hat und ihm damit das Recht zusteht, den Platz des Erwachens einzunehmen. Es heißt, die Göttin Erde habe hundertfach und tausendfach gebebt, um das Recht des Buddha zu bestätigen.
Vielen ist sicher die Darstellung des zukünftigen Buddha bekannt, wie er voller Ruhe, Gelassenheit und Würde unter dem Baum sitzt, umtobt von Maras Armeen. Dabei verwandeln sich all die Speere, Pfeile und Keulen – Symbole der inneren negativen Emotionen und Aggressionen – in Blumen. Der Buddha sitzt in tiefstem Frieden, und Blumenblätter fallen. Dies ist ein weiterer wichtiger Hinweis: Es ist die Haltung des wachen Offenseins, des weisen Annehmens, der liebevollen Güte (metta/maitri), die all diese Dämonen, all diese unheilsamen Kräfte in Blumen, in die Qualität liebevoller Gelassenheit umwandelt.
Und eben diese innere Haltung ist es, die wir in der Meditation üben; wir üben, gegenwärtig zu sein, in einer Haltung der Offenheit, des Willkommenheißens. Diese wache, liebevolle Zuwendung, diese liebevolle Güte, bringen wir für das auf, was sich in unserem Innern zeigt, aber natürlich wirkt sie gleichermaßen auch nach außen. Begegnen wir unseren Mitmenschen mit einer solchen Haltung, fühlen sie sich respektiert und geliebt. Eine Atmosphäre der Furchtlosigkeit, des rücksichtsvollen, wertschätzenden und verantwortlichen Seins und Handelns entsteht.
In einer solchen Haltung sitzt auch Prinz Siddhartha unter dem Baum, in unerschütterlicher, liebevoller Gelassenheit, wie es heißt, und erlangt in dem Moment, in dem der Morgenstern über dem Horizont aufsteigt, vollständiges Erwachen. Er hat die endgültige und tiefst mögliche Offenheit, Klarheit und Ganzheit erreicht. Er ist frei von Verlangen, von der treibenden Kraft der Gier, frei von Hass und Täuschung, frei vom Nichtverstehen der Wirklichkeit. Tiefer, grenzenloser Frieden ist es, den er gefunden hat.
Genau hier liegt die überragende Bedeutung des Buddha für uns heute, die Aktualität seiner Lehre. Der Buddha erkennt die Möglichkeiten des menschlichen Herzens und Geistes. Er vertröstet nicht auf ein beglückendes Jenseits, sondern setzt sich direkt mit dem eigenen Geist in dieser Welt – hier und jetzt – auseinander. Er findet eine Lösung für das menschliche Dilemma, das Problem des Leidens, eine Lösung, die von jedem Menschen – jederzeit – anwendbar ist. Sein Leben lässt keinen Zweifel daran, was uns Menschen tatsächlich möglich ist. Aber es lässt auch keinen Zweifel daran, wie viel es dazu braucht: Es wird nämlich nichts weniger als alles von uns gefordert. Wir sollten diesen befreiten, vollkommenen Menschen nicht so sehr als ein Ideal betrachten, an dem wir uns messen müssten, sondern als Inspiration, sich mit aller Entschlossenheit und aus ganzem Herzen der Praxis zuzuwenden, um in Richtung innere Freiheit und Verbundenheit zu gehen.
Das Mitgefühl erwacht
Sieben Wochen lang genießt der Buddha den Frieden der großen Erkenntnis. Es heißt, dass er zuerst nicht habe lehren wollen, weil er glaubt, es gebe niemanden, der ihn verstehen könne. Nach sieben Wochen des inneren Friedens und der Ruhe blickt er mit seinem inneren Auge über die Welt. Er sieht, dass alle Lebewesen ständig damit beschäftigt sind, glücklich zu werden. Aus Verblendung und Unverstand tun sie jedoch immer wieder genau das, was ihnen Leiden beschert. Diese Erkenntnis ist es, die sein umfassendes, grenzenloses Mitgefühl, das er in zahllosen Leben entwickelt hat, vollständig zum Erblühen bringt.
Er sieht auch, dass es Menschen gibt, die