Doch was ist es, das diese Menschen bewegte, aus ihrem gewohnten, nicht selten wohlbehüteten Alltag auszubrechen, auf allen Komfort zu verzichten und außergewöhnliche Risiken und Herausforderungen auf sich zu nehmen? Es ist die drängende Frage nach dem Sinn dieses Daseins, eines vergänglichen, oftmals ungerechten, oft auch leidvollen Lebens. Und es ist – viel mehr noch – die tiefe Ahnung, dass eine ganz andere Art von Sein möglich ist: ein Leben in innerer Verbundenheit, in Freiheit und Glück. Ein Leben, wie es jedem und jeder von uns, ohne Ausnahme, möglich ist, das aber erst verwirklicht oder wiederentdeckt werden muss.
Warum aber habe ich Lebensläufe aus so vielen verschiedenen Traditionen gewählt? Geht es in dieser spirituellen Praxis denn nicht darum, Vertrauen in die eigene Übertragungslinie, die Quelle des eigenen Weges zu kultivieren? Studiert man ausschließlich die eigene Tradition, besteht eine Gefahr, die vielen meist noch nicht einmal bewusst ist: Die anderen Übertragungslinien und Traditionen werden nicht selten als weniger gut, oft auch als minderwertig oder gar irrig angesehen. Damit entsteht die leider auch im Buddhismus verbreitete Neigung zum Sektierertum. Durch die Auswahl an Lebensgeschichten und Legenden aus verschiedenen buddhistischen Traditionen möchte ich dieser bedauernswerten Tendenz etwas entgegenwirken. Allerdings enthält dieses Buch keine Geschichten aus dem Kulturkreis Ostasiens, was nicht an meiner mangelnden Wertschätzung liegt, sondern an meinen beschränkten Kenntnissen von diesen Traditionen. Das biographische Material, das uns aus den ersten zwei Jahrtausenden buddhistischer Geschichte zur Verfügung steht, ist oft recht spärlich. Ich wollte aber Menschen – Männer wie Frauen – aus den verschiedenen Epochen des Buddhismus vorstellen, um deutlich zu machen, auf welch reiches Erbe wir heute zurückblicken können: auf eine lange Kette von Menschen, die den Dharma (die Lehre) durch ihre eigene Praxis zum Leben erweckt und weitervermittelt haben.
Was heißt erwacht oder erleuchtet?
»Erleuchtung« oder »Erwachen« ist in spirituellen Kreisen ein vieldeutig verwendeter, schillernder Begriff, und gar manche bezeichnen sich heute öffentlich als erleuchtet. Dort, wo dann aber das Verhalten des oder der »Erleuchteten« nicht gerade Heiligkeit vermuten lässt, wird oft suggeriert, Erleuchtung bedeute, eine unbegrenzte innere Freiheit erlangt zu haben, die außerhalb der ethischen Normen Normalsterblicher liege und damit von verantwortlichem oder vorbildlichem Verhalten entbunden sei. Eine beträchtliche Anzahl ansonsten kritischer Menschen bewundern heute solche Auslegungen.
In der Mehrzahl der buddhistischen Traditionen jedoch wird Erwachen seit jeher recht genau definiert: Echte befreiende Erkenntnis muss von den Fesseln der Täuschung, aber auch von Leid schaffenden Emotionen befreien. Wenn diese trotzdem im Verhalten von Erleuchteten wahrnehmbar sind, heißt das nicht unbedingt, dass sie keine echten Erfahrungen des Erwachens gemacht hätten und kompetent darüber berichten könnten. Aber der Weg zur vollständigen Befreiung ist weit. Erst wenn alle Geistesgifte wie Verlangen, Ablehnung, Verblendung und deren Auswirkungen völlig aus dem Wesen eines Menschen verschwunden sind, kann man wirklich von vollständigem Erwachen sprechen. Solche Menschen sind selten, sie sind Heilige und können für uns eine kostbare Quelle der Inspiration sein.
Zwischen Verklärung und Skepsis – wie wir auf Heilige reagieren
Die meisten Legenden und Geschichten in diesem Buch haben, wie schon erwähnt, symbolischen und archetypischen Charakter. Die Protagonisten leisten Übermenschliches, vollbringen Wundertaten und verwirklichen höchste menschliche Ideale. Solche Erzählweisen wollen uns unsere Möglichkeiten vorbildhaft spiegeln. Bei uns können solche Legenden allerdings auch ganz andere Reaktionen hervorrufen – von leichtgläubiger Begeisterung bis hin zu skeptischer Ablehnung.
Wer den gesunden Menschenverstand und die Vernunft hinter sich lässt, sei es aufgrund der Sehnsucht nach romantischer Verklärung, sei es aufgrund des Wunsches, sich einem Kreis von Auserwählten zugehörig zu fühlen, befindet sich auf spirituellem Glatteis. Wer sich aber, gefangen in rein rationalem Denken, vor den grenzenlosen Möglichkeiten unseres Geistes verschließt, bringt sich selbst um den Reichtum und die Tiefe echter spiritueller Praxis.
Wir sollten uns auch nicht verleiten lassen, solche Vorbilder zu trivialisieren und unser Augenmerk darauf zu richten, dass auch sie Fehler hatten. Vielmehr können wir den Schritt wagen, durch sie auch unsere eigenen schönen und heilsamen Qualitäten zu entdecken, sie anzuerkennen und uns daran zu erfreuen.
In diesem Sinn will dieses Buch all die wunderbaren, uns innewohnenden Fähigkeiten feiern und uns aufrufen, diese Fähigkeiten zu stärken und zum Blühen zu bringen.
DAS LEBEN DES BUDDHA – DHARMA HEUTE
So wie das Wasser des Meeres nur einen Geschmack hat –
den Geschmack von Salz,
so hat die Lehre des Erwachten nur einen Geschmack –
den Geschmack der Befreiung.6
(BUDDHA)
Leben und Wirken des Siddhartha Gautama7 – des vollständig Erwachten, des Buddha – sind auch für uns heute Lebende noch von außerordentlichem Wert und Interesse, zeigen sie doch, wie ein Mensch aus eigener Kraft Befreiung erlangt, das Wesen des menschlichen Herzens und Geistes zutiefst verstanden hat und fähig gewesen ist, anderen durch Belehrungen und geschickte Mittel einen gangbaren Weg zu dieser inneren Freiheit aufzuzeigen. In diesem Sinne sind sein Leben und seine Lehren bis heute von tiefer Bedeutung und von großer Inspirationskraft.
Im Laufe der Zeiten ist das Leben des Buddha von seinen Anhängern zum Mythos umgestaltet worden, er wurde fast zum Gottmenschen gemacht. In Asien beten Millionen Menschen zum Buddha, dafür, dass die Geschäfte gut gehen oder dass man nach dem Tod in einem Himmel wiedergeboren werden möge. Umgekehrt gibt es heute Bestrebungen, die Figur des Buddha von allen Mythen zu befreien und ihn als realen Menschen in einer realen Welt mit all ihren Zwängen und Dilemmas verstehbar zu machen. Beide Betrachtungsweisen beinhalten sowohl nachvollziehbare Beweggründe als auch sinnvolle Absichten und Ziele. Beide wollen die Religion und die religiöse Praxis den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten und Bedürfnissen der Menschen anpassen.
Wir werden nie genau wissen können, wer der Buddha wirklich gewesen ist und wie seine unmittelbare Umwelt und sein Leben tatsächlich ausgesehen haben. Trotzdem, oder gerade deshalb, möchte ich im Folgenden einige Legenden über ihn und sein Leben erzählen und sie für uns heute mit Bedeutung zu füllen versuchen. Mir geht es dabei nicht darum, herauszufinden, wer er wirklich gewesen ist, auch nicht um eine Darstellung des Buddha als »Religionsgründer«. Der Buddha hat sich nicht als »Buddhist« verstanden. Im Wesentlichen geht es darum, dass er praktisch anwendbare Mittel zur inneren Befreiung aufgezeigt hat, die – mit den erforderlichen Anpassungen an unsere Kultur – auch heute noch sehr wirkungsvoll sind und für jene, die sie konsequent anwenden, zu außerordentlich tiefer innerer Transformation und Freiheit führen können.
Siddhartha Gautama, der Erwachte
Meine Befreiung ist unerschütterlich.8
(BUDDHA)
Die Tatsachen des Lebens
Siddhartha Gautama wächst in Kapilavatthu, der Hauptstadt der Sakya, im Palast seines Vaters, des Königs Suddhodana, heran. Weil ein Astrologe prophezeit hat, der Prinz werde entweder ein Herrscher