Die Lehre
Zuerst wandert der Buddha von Bodhgaya nach Isipathana, dem heutigen Sarnath bei Benares. Dort trifft er auf die fünf Asketen, die ihn nach seiner Entscheidung, wieder genügend Nahrung zu sich zu nehmen, verlassen haben. Sie sind fest entschlossen, ihn noch nicht einmal zu begrüßen. Aber seine Würde und Ausstrahlung sind von solcher Kraft, dass sie ihm, entgegen ihrem eigenen Willen, einen Sitz als Lehrer anbieten. Und der Buddha hält vor ihnen seine erste Lehrrede und setzt damit das »Rad der Lehre« in Bewegung. Als Erstes lehrt er den Mittleren Weg zwischen Kasteiung und Ausschweifung sowie die Vier Edlen Wahrheiten – sozusagen die Grundaussagen, auf denen seine ganze Lehre aufbaut, die er in den folgenden Jahrzehnten unermüdlich darlegen wird. Der Buddha lehrt:
•dass dieses Dasein Konflikte, Schwierigkeiten und endloses Leiden aller Art beinhaltet, und er betont die Notwendigkeit, diese Tatsache vollständig wahrzunehmen und anzuerkennen;
•dass die Ursachen allen inneren Leidens in uns selbst liegen, in unserem Herzen, in unserem Geist;
•dass es möglich ist, sich von all diesem inneren Leiden und seinen Ursachen zu befreien, indem wir die Ursachen erforschen und sie letztlich überwinden und heilen;
•und legt den Weg, die Mittel und Methoden dar, die zu dieser Befreiung, zu tiefster Verbundenheit und zu weisem und engagiertem Wirken in dieser Welt führen.
Der Buddha hat die Tatsachen des Daseins ergründet und Dinge erkannt, die nie zuvor in dieser Klarheit und Genauigkeit gesehen und gelehrt worden sind. Das Herzstück seiner Lehre ist das bedingte abhängige Entstehen (paticca samuppada/pratitya samutpada) sowie die Leerheit von unabhängiger Selbstexistenz (anatta /anatman, suññatta/shunyata)
Das Herzstück seiner Praxis ist das achtsame Gewahrsein zum Zweck der befreienden Erkenntnis. Wesentlich sind auch seine Ermutigung zur persönlichen Selbstständigkeit in der Erforschung der Wirklichkeit und in der Umsetzung der Praxis und gleichzeitig seine nachdrückliche Aufforderung zur sozialen Einbindung in Gemeinschaft und Gesellschaft.
Was der Buddha damals entdeckt und gelehrt hat, ist auch für uns heute noch von Gültigkeit. Es gibt immer noch diesen Weg der Liebe und des Mitgefühls, den jeder und jede von uns wiederentdecken und verwirklichen kann – und uns steht diese Praxis der Erkenntnis und der Befreiung zur Verfügung und wir sind frei, sie zu nutzen.
Mitgefühl und Verbundenheit leben
Die nächsten 45 Jahre seines Lebens wandert der Buddha unermüdlich von Ort zu Ort. Menschen aller Herkunft und Glaubensrichtungen kommen zu ihm, um sich beraten und inspirieren zu lassen. Asketen, Mönche und Nonnen, Prinzessinnen und Könige, Kaufleute, Kurtisanen, Handwerker und Bauern, sogar Räuber und Mörder suchen ihn auf. Es kommen Gottesgläubige und Atheisten, Feueranbeter und Materialisten, Brahmanen und Kastenlose. Sie stellen ihre Fragen und erhalten Antworten in Form von Geschichten, Beispielen, weisen Erklärungen und vor allem praktischen Anweisungen.
Wer immer zur Praxis Fragen hat, kann zu ihm kommen und erhält einen Rat. Hat jemand ein philosophisches Problem, hilft er – oft durch geschicktes Zurückfragen – es auf praktische Weise zu lösen. Ist jemand in Not geraten, ist der Buddha für ihn da. Er schlichtet Fehden zwischen sich bekriegenden Volksstämmen. Er sorgt dafür, dass in seinem Orden klare und menschliche Richtlinien und Regeln herrschen, orientiert am Nutzen für den Weg zur Befreiung. Er achtet die Sitten und Bräuche der Gesellschaft und weiß geschickt damit umzugehen. Er ist aber auch bereit, radikal davon abzuweichen, wenn die Tradition im Gegensatz zum Weg der befreienden Weisheit und des Mitgefühls steht. In all den Jahren seines Wirkens stellt er sich unermüdlich in den Dienst des Wohles anderer.
Es gibt eine berührende Schilderung, wie der Buddha einmal zusammen mit Ananda einen Mönch antrifft, der unter schwerem Durchfall leidet und, unfähig sich zu rühren, im eigenen Dreck liegt. Nachdem sich herausstellt, dass seine Mitmönche sich nicht um ihn kümmern, bemühen sich die beiden um den Kranken, sie richten ihn auf, waschen ihn und betten ihn auf sein Lager. Daraufhin richtet der Buddha die folgenden Worte an seine Mönche: »Wenn ihr euch nicht umeinander sorgt, wer wird dann für euch sorgen? Wer immer auch mich pflegen würde, sollte auch die Kranken pflegen.«11 Für den Buddha ist Mitgefühl nicht nur ein Aspekt der Lehre, den man in formalen Meditationen – im Sinne von »Mögen alle Wesen glücklich sein« – üben sollte, sondern eine innere Haltung, die in allen Lebenssituationen zum Tragen kommt.
Das Ende eines außerordentlichen Lebens
Selbst in seiner letzten Stunde, in Kushinagar, dem Ort seines Sterbens und Eintretens in den befreiten Zustand nach dem Tod, ins Parinirvana, will ein religiöser Wanderer, Subhadda, noch eine dringende Frage an ihn richten. Als der Buddha, im Sterben liegend, von ferne hört, dass Ananda, sein Diener, den Besucher abweisen will, fordert er ihn auf, auch diesen Suchenden noch zu ihm zu lassen, damit er die Lehre hören könne. Sein Mitgefühl ist grenzenlos, bis zum Ende seines Lebens.
Sein Lebensweg, seine Art des Wirkens lassen ganz deutlich werden: Spirituelle Praxis ist nicht einfach als Weg zu persönlichem Wohlbefinden oder zur Selbstbefreiung zu verstehen, sondern sie verwirklicht sich nur dann, wenn sie letztlich der Allgemeinheit – allen Lebewesen – zugute kommt.
Der Buddha stirbt im Alter von etwa 80 Jahren. In einer seiner letzten Lehrreden geht es um die Frage, wer sein Nachfolger sein werde. Er ist nicht bereit, einen solchen zu benennen. Vielmehr erinnert er noch einmal daran, worauf wir uns wirklich verlassen sollten:
»Darum, Ananda, seid eine Insel für euch selbst, eine Zuflucht für euch selbst, keine äußerliche Zuflucht suchend; mit dem Dhamma als eure Insel, mit dem Dhamma als eure Zuflucht, ohne eine andere Zuflucht zu suchen.«12Und er erklärt, dass damit das beharrliche Praktizieren des achtsamen Gewahrseins gemeint ist.
Die zu praktizierenden vier Grundlagen der Achtsamkeit13 sind:
•die Achtsamkeit des Körpers, d. h. Achtsamkeit aller Körperempfindungen, einschließlich des Atems;
•die Achtsamkeit der Gefühlstönung (vedana), d.h. Achtsamkeit der angenehmen, unangenehmen oder neutralen Gefühlstönung jedweder Erfahrung;
•die Achtsamkeit des Geistes und der Geistesqualitäten, Geisteszustände und Emotionen wie z. B. Güte, Hass, Großzügigkeit, Geiz, Begierde, Wachheit, Schläfrigkeit, Sammlung oder Verwirrung;
•die Achtsamkeit der Objekte des Geistes, d. h. Achtsamkeit der fünf Hemmnisse, der fünf Daseinsgruppen, der zwölf Sinnesgrundlagen, der sieben Faktoren des Erwachens, der Vier Edlen Wahrheiten und der drei Daseinsmerkmale.14
Dies soll »eifrig, mit Wissensklarheit und ohne Anhaften oder Ablehnung« praktiziert werden.
Wir haben heute die Lehre, die uns den Weg einer befreienden Praxis zeigt. Wir haben die Praxis, die uns, wenn wir sie anwenden, ermöglicht, das Wesen der Wirklichkeit zu erkennen und uns von den täuschenden und quälenden Zuständen von Herz und Geist zu befreien. Wir haben Lehrer und Lehrerinnen, die uns die Lehren vermitteln und uns auf dem Weg unterstützen. Wir haben es in der Hand, den Weg der Weisheit und des Mitgefühls zu gehen. Worauf es ankommt, macht der Erwachte noch einmal in seinen letzten Worten klar: »Alles Entstandene ist vergänglich. Verwirklicht euch durch unermüdliche Aufmerksamkeit.«15
Dieser Weg, diese Lehre, diese Entdeckungsreise ist eine lebendige Erfahrung, die in den letzten 2500 Jahren ununterbrochen von unermüdlich im Leben und in der Praxis engagierten Frauen und Männern gelebt wurde und die wir uns auch heute zunutze machen können. Dies ist das Geschenk einer ungebrochenen Übertragungslinie. Dieses Geschenk geht an uns alle. Auch heute noch.
WEGGEFÄHRTEN DES BUDDHA
Den Geist unerschütterlich wie ein Felsen.
Frei