Zu begreifen, dass ein Teil eine positive Absicht hat, bedeutet allerdings nicht, dass man ihm Macht verleihen würde. Zum Beispiel will Bill nicht, dass der genannte Teil sein abwertendes und konkurrenzorientiertes Verhalten zum Ausdruck bringt. Mit der IFS-Methode kann Bill dem Teil Verständnis und Wertschätzung entgegenbringen, zugleich aber auch Schritte unternehmen, um ihn zu heilen.
Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend davon, wie wir sonst mit unseren Teilen umgehen. Wenn wir einen Teil wahrnehmen, besteht unsere erste Reaktion normalerweise darin, ihn zu bewerten. Ist er gut oder schlecht für uns? Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass er gut ist, akzeptieren wir ihn und geben ihm Macht. Wenn wir ihn für schlecht halten, versuchen wir, ihn zu unterdrücken oder ihn loszuwerden. Allerdings können wir einen Teil nicht loswerden, wir können ihn nur in die tieferen Schichten unserer Psyche drängen, wo er uns weiterhin beeinflusst, ohne dass wir es wahrnehmen.
In IFS tun wir etwas radikal anderes – wir heißen alle unsere Teile mit Neugier und Mitgefühl willkommen. Wir versuchen, sie zu verstehen und würdigen ihre Bemühungen, uns zu helfen. Dadurch entwickeln wir eine einfühlsame, vertrauensvolle Beziehung zu jedem Teil und unternehmen dann Schritte, um ihn von seinen Lasten zu befreien, damit er auf gesunde Weise funktionieren kann.
Als Beschützer werden im IFS-System jene Teile bezeichnet, auf die wir normalerweise zuerst stoßen, wenn wir unser Inneres erforschen. Ihre Aufgabe ist es, mit der Welt umzugehen, uns zu beschützen und funktionsfähig zu halten. Mit den Personen, Verantwortlichkeiten und Situationen in unserer Umgebung interagieren sie auf vernünftige, strategische Weise. Ihre andere Hauptfunktion ist es, uns vor dem Schmerz unserer Verbannten zu beschützen. Das sind junge, kindliche Teile, die aus der Vergangenheit stammende Schmerzen in sich tragen. Im Allgemeinen werden sie von den Beschützern in die Verbannung geschickt, das heißt, außerhalb unseres Bewusstseins gehalten.
In dem obigen Beispiel hatte Bill einen Beschützer, der sich konkurrierend und abwertend gegenüber anderen verhielt. Er versuchte, Bill dabei zu helfen, sich überlegen zu fühlen, um ihn vor einem verbannten Teil zu beschützen, der sich unzulänglich fühlte. Wahrscheinlich hatte dieser Verbannte in der Vergangenheit irgendeine Erniedrigung oder Ablehnung erfahren, die ein Gefühl der Wertlosigkeit hinterließ.
Solche dysfunktionalen Rollen nehmen unsere Teile aufgrund von etwas an, was ihnen in der Vergangenheit widerfahren ist. Verbannte tragen die Schmerzen und Lasten dessen in sich, was sie als Kinder erlebt haben. Die Beschützer wiederum übernehmen ihre Rolle, um Verbannte zu beschützen oder um uns vor dem Schmerz von Verbannten zu bewahren.
Der IFS-Prozess
IFS stellte eine Methode zur Verfügung, diese Teile zu verstehen und mit ihnen so umzugehen, dass sie von den Lasten der Vergangenheit befreit werden. Dadurch wird unser inneres System geheilt und kann auf gesunde Weise funktionieren. Der Schlüssel zu dieser Heilung ist das Selbst. In IFS geht man davon aus, dass jeder von uns ein spirituelles Zentrum besitzt, ein wahres Selbst. Dieses Selbst ist von Natur aus mitfühlend und neugierig, was andere Personen angeht, aber vor allem hinsichtlich unserer eigenen Teile. Es will zu jedem Teil eine Verbindung herstellen, ihn kennenlernen und verstehen. Das Selbst empfindet Mitgefühl für den Schmerz der Verbannten und die damit verbundene Last, die sie tragen. Mitgefühl hat es auch für die Beschützer und die schwere Aufgabe, die diese mit dem Versuch auf sich nehmen, die Verbannten vor einer neuen Verletzung oder davor zu bewahren, exponiert zu werden. Trotz der intensiven Emotionen, die unsere Teile manchmal empfinden, ist das Selbst in der Lage, ruhig und zentriert zu bleiben. Jeder hat ein Selbst, auch wenn Sie vielleicht den Eindruck haben, dass das Ihre wegen der Aktivität Ihrer Teile gelegentlich nicht so recht zugänglich ist.
Das Selbst ist das Mittel der Heilung, das wahre Oberhaupt des inneren Systems, das jeden Teil lieben und heilen kann. Der erste Schritt im IFS-Prozess besteht daher darin zu lernen, wie man Zugang zum Selbst findet. Anschließend kann das Selbst seine Energie auf einen bestimmten Teil richten. In unserem Beispiel hat Bill damit begonnen, sich auf seinen wertenden Teil zu konzentrieren. Mit etwas Arbeit war er in der Lage, wirklich in seinem Selbst zu sein, wodurch Interesse in ihm entstand, den wertenden Teil kennenzulernen. Wie er feststellte, versuchte dieser, einen verbannten Teil zu beschützen, der sich unzulänglich fühlte. In der Kindheit hatte Bill Lernprobleme gehabt, wenngleich er jetzt intelligent und tüchtig ist. Deshalb gab es einen jungen Teil von Bill, der sich in der Schule unzulänglich vorgekommen war. Diese Erfahrung versuchte der wertende Teil zu kompensieren, indem er sich anderen Leuten überlegen fühlte. Bill war in einem kritischen, konkurrenzorientierten Elternhaus aufgewachsen, weshalb dies das dominante Modell war, das der betreffende Teil kannte. Als Bill den wertenden Teil kennenlernte, begriff er, weshalb dieser so gehandelt hatte, und konnte Wertschätzung für dessen Bemühungen seinetwillen empfinden.
Anschließend nahm Bill Kontakt zu dem Verbannten auf, der sich unzulänglich fühlte. Er hörte ihm zu und beobachtete, wie dieser Teil ihm Szenen aus seiner Kindheit zeigte, als er sich wegen seines Lernproblems geschämt hatte. Als er dem jungen Verbannten Mitgefühl und Fürsorglichkeit entgegenbrachte, reagierte dieser darauf, indem er sich zum ersten Mal geschätzt und wertvoll fühlte. Bis dahin war er in Bills Unbewusstem verborgen gewesen, was sein Gefühl der Wertlosigkeit nur verstärkt hatte. Durch die Liebe von Bills Selbst konnte er die Last der Unzulänglichkeit ablegen, die er getragen hatte, und sich positiv gegenüberstehen. Das wiederum ermöglichte es seinem Beschützer, sich zu entspannen, denn dieser brauchte andere Leute nun nicht mehr abzuwerten, um den Schmerz des Verbannten zu kompensieren. Dadurch war Bill in der Lage, auf andere Menschen so zu reagieren, wie er es immer gewollt hatte – mit Offenheit, Akzeptanz und einer kooperativen Haltung.
IFS-Prinzipien
Die folgenden Gedanken gehören zu den Grundprinzipien der Arbeit mit dem System der Inneren Familie. Sie dienen als Basis für dieses Praxisbuch.
1. Alle Teile sind willkommen.
2. Wir zwingen einen Teil nie dazu, beiseitezutreten oder sich von uns zu lösen, wir bitten ihn nur darum.
3. Wir respektieren die Gründe, die unsere Teile dafür haben, was sie sind und wozu sie nicht bereit sind.
4. Alle Teile haben im Grunde eine positive Absicht und wollen letztlich nur das Beste für uns. Wenn sie scheinbar eine negative Absicht haben, verwenden sie Strategien, die auf einer bestimmten Ebene in ihrer Vergangenheit sinnvoll waren, jetzt aber nicht mehr tauglich sind. In ihre Welt zu gelangen und den Ursprung ihrer Strategien zu verstehen, ist ein entscheidender Schritt dazu, ihnen zu helfen, wirksamere Strategien anzuwenden.
5. Unsere Teile zeigen sich kooperativ, sobald wir uns um ihre Ängste kümmern und wenn sie spüren, dass wir im Selbst sind und ihre Absichten verstehen.
6. Wir können nichts falsch machen, wenn wir mit IFS an uns arbeiten. Selbst wenn der Prozess vollständig blockiert ist, bedeutet das nur, dass ein Beschützer ihn aus irgendeinem Grund behindert. Dann suchen wir Zugang zu dem Beschützer, um herauszufinden, weshalb er sich so verhält.
7. Am schnellsten löst man ein Problem, indem man langsam, geduldig und respektvoll mit allen beteiligten Teilen umgeht.
KAPITEL 2
Geführte Meditationen
Eine geführte Meditation ist eine Reise, die einen veränderten Bewusstseinszustand auslöst, in dem Informationen aus den tieferen Schichten der Psyche besser verfügbar sind. Zu diesem Buch gehören drei Aufnahmen von geführten Meditationen:
• Ins Selbst kommen
• Die Beschützer würdigen
• Einen aktivierten Verbannten besänftigen
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