Statt in unserer Ratlosigkeit möglichst schnell nach einem Rezept Ausschau zu halten, könnten wir vielleicht zunächst einmal innehalten und versuchen, unsere Situation genauer zu betrachten. Wenn wir Kinder als eigenständige Menschen sehen und mit ihnen in eine wahrhaft menschliche Beziehung treten möchten, und wenn wir erkennen, daß eine wirkliche Entfaltung des menschlichen Potentials die Frucht eines Reifeprozesses ist, versteht es sich von selbst, daß wir dies nicht durch die Anwendung irgendwelcher Erziehungsmethoden von außen bewerkstelligen können. Stattdessen können wir nach den Bedingungen fragen, die eine harmonische Entfaltung der Kinder ermöglichen, und welche Verhaltensmuster und Sichtweisen dazu führen, daß wir Kinder eher als Objekte behandeln und so den Kontakt zu ihnen verlieren.
Ein typischer Zeitpunkt, wenn Eltern anfangen, nach wirkungsvollen Lösungen zu suchen, ist, wenn Kinder anfangen, ein eigenes Ich, einen eigenen Willen zu entwickeln. Dies geschieht gewöhnlich um das zweite Lebensjahr herum – manchmal früher, manchmal später. In der Literatur wird diese Zeit die „Trotzphase“ genannt, und Kinder, die sich in dieser Phase befinden, werden gern als kleine Tyrannen bezeichnet, die dann durch die verschiedensten Methoden gezähmt werden sollen. Tatsächlich werden diese Kinder einfach selbständig, und wer trotzig wird, sind eher die Erwachsenen. Oft beginnen sich Kinder einfach nur gegen bestimmte Verhaltensweisen oder Umstände aufzulehnen, die ihren Bedürfnissen nicht entsprechen. So läßt sich ein Kleinkind vielleicht plötzlich nicht mehr ohne weiteres wickeln, was durchaus seinen Grund haben mag, wenn wir uns einmal genauer ansehen, in welcher Atmosphäre dieses stattfindet und wie einfühlsam und respektvoll unsere Hände dabei gewöhnlich sind. Oder es möchte seine Umgebung möglichst gründlich erforschen und wehrt sich dagegen, wenn es ständig davon abgehalten wird.
Wir können davon ausgehen, daß zweijährige Kinder in den seltensten Fällen einen Machtkampf vom Zaum brechen oder uns tyrannisieren wollen. Sie sind einfach, was sie sind. Und wenn wir ihnen den Raum und die Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die sie brauchen, und uns ihnen einfühlsam zuwenden, verwandeln sich die sogenannten kleinen Tyrannen in aufgeweckte und sehr selbständige Forscher, an denen wir nur unsere Freude haben können.
Natürlich gibt es auch Kinder, die besondere Schwierigkeiten damit haben, daß die Welt und andere Menschen nicht nach ihrem eigenen Willen funktionieren. Ihre Wutanfälle treten nicht nur dann auf, wenn sie von uns nicht bekommen, was sie wollen, sondern auch, wenn die Wand einfach nicht weichen will, gegen die sie mit ihrer Schubkarre stoßen. Aber auch solchen Kindern ist nicht geholfen, wenn wir ihnen mit dem neuesten Ratgeber zum Grenzensetzen oder Festhalten zu Leibe rücken, sondern auch sie brauchen eine verständnisvolle, mitfühlende Begleitung, die ihnen hilft, anzunehmen, daß die Welt nicht immer so sein kann, wie sie es gern hätten. Manchmal ist ihnen mehr geholfen, wenn wir ihren Anfällen keine besondere Beachtung schenken und einfach die Situation beschreiben: „Die Wand will einfach nicht weggehen, nicht wahr?“ Welches Verhalten in einer solchen Situation jeweils angemessen ist, läßt sich natürlich nicht pauschal sagen, aber wenn wir nicht nur darauf aus sind, daß ein Kind unseren Erwartungen gemäß funktioniert und uns wirklich in die Situation einfühlen, finden wir meistens auch eine Lösung.
Wenn Kinder früher so funktionierten, wie es die Erwachsenen erwarteten, war das ein Erziehungserfolg, und die Eltern durften sich auf die Schultern klopfen. Lief es nicht wie gewünscht, so waren die Kinder schwierig und die Eltern wurden bemitleidet, wie schwer sie es mit diesem Kind hatten. Heute wissen wir, daß dies eine sehr einseitige Sicht war, und es geht darum, Wege zu finden, eine Beziehung zu unseren Kindern aufzubauen, die von gleicher Würde und gegenseitigem Respekt geprägt ist.
Wie aber könnte eine neue Beziehungsqualität aussehen? Welche Voraussetzungen liegen ihr zugrunde und wie könnten wir sie in unserem täglichen Leben verwirklichen? Wie können wir lernen, uns unseren Kindern immer wieder voll und ganz zuzuwenden – ihnen mit Achtsamkeit, Mitgefühl, Liebe und Respekt zu begegnen? Was brauchen wir selbst, um einen solchen Weg gehen zu können, und wie können wir die Folgen unserer eigenen Erziehung hinter uns lassen?
Diesen Fragen möchte ich auf den folgenden Seiten nachgehen und Möglichkeiten aufzeigen, die einen solchen Prozeß unterstützen können. Es geht um eine neue Sichtweise, die Wege aufzeigt, wie Kinder ihrer inneren Natur gemäß aufwachsen können. Dabei möchte ich nochmals betonen, daß alles, was ich in diesem Buch schreibe, als Anregung oder Ermutigung zu verstehen ist. Ich bin kein Experte, der weiß, wie man „richtig“ mit Kindern umgeht. Vielmehr bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß es darum geht, in unserer eigenen Situation die bestmögliche Lösung für den nächsten Schritt zu finden. Wir müssen nicht anders oder besser werden, als wir sind, so seltsam das klingen mag. Wenn wir von da ausgehen, wo wir gerade stehen, wie unzureichend uns das auch erscheinen mag, und uns einfach immer wieder erinnern, etwas mehr Achtsamkeit, Einfühlsamkeit und Geduld aufzubringen, wird sich unser Leben und die Beziehung zu unseren Kindern entscheidend verändern.
Grundsätzlich gilt auch für mich die Aussage von Anna Tardos, daß es immer sinnvoller ist, dem eigenen inneren Gefühl, der eigenen Überzeugung zu folgen, als etwas zu tun, nur weil es jemand gesagt hat, den wir für einen Experten halten, und so gegen unsere Intuition zu handeln. Mit Kindern neue Wege gehen bedeutet vielmehr das „Ich-weiß-Nicht“ schätzen zu lernen und so die eigene Intuition zu entwickeln und ihr mehr und mehr zu vertrauen und zu folgen. Im Zen wird diese innere Haltung der „Anfänger-Geist“ beziehungsweise der „Don’t know mind“ genannt und kennzeichnet die Fähigkeit, alles, was wir schon zu wissen glauben, beiseite zu lassen, die innere Leere des „Ich-weiß-Nicht“ zuzulassen und uns immer wieder völlig neu und ohne vorgefertigte Meinungen auf eine Situation oder einen Menschen einzulassen. Der Geist des Experten kennt wenige Möglichkeiten, der Geist des Anfängers viele!
Das heißt natürlich nicht, daß wir einfach nur „aus dem hohlen Bauch“ handeln sollten, ohne uns über die Folgen unseres Tuns Gedanken zu machen. Alles, was wir tun oder nicht tun, hat Folgen, und nur wenn wir versuchen, uns dieser Folgen gewahr zu werden, nur wenn wir uns unseren Kindern und unserer Situation wirklich zuwenden und bewußt unsere eigenen Entscheidungen treffen, können wir einen Weg finden, der wirklich unser eigener ist. Und nur ein solcher, eigener Weg führt dazu, daß unsere Kinder sich von uns angenommen und geliebt und auf ihrem Weg ins Leben begleitet fühlen können. Jon Kabat-Zinn sagte am Ende eines Interviews: „Das größte Geschenk, das wir Kindern machen können, sind wir selbst.“ Kinder möchten mit uns eine echte Beziehung eingehen, sie haben kein Interesse an „perfekten“ Eltern, die immer alles richtig machen wollen. Es ist unausweichlich, daß wir Fehler machen und daß unsere Kinder unter diesen Fehlern zu leiden haben, aber wenn wir die innere Bereitschaft haben, aus diesen Fehlern zu lernen, ist das alles, was nötig ist.
Vielleicht zweifeln auch Sie hin und wieder daran, daß Sie der Aufgabe gerecht werden und Ihre Kinder auf angemessene Weise ins Leben begleiten können. Elternsein ist sicherlich eine der anstrengendsten und streßreichsten Aufgaben, die es auf dieser Erde gibt, und da es eine solch gewaltige Herausforderung ist, sehnen wir uns oft einfach danach, einen Weg zu finden, alle Schwierigkeiten, Zweifel und Ängste, die mit dieser Aufgabe verbunden sind, möglichst auf einen Schlag loszuwerden. Das letzte, was wir uns wünschen, sind noch mehr Aufgaben, noch mehr, was wir machen sollen, um „gute Eltern“ zu sein.
In diesem Buch geht es nicht darum, was Sie noch alles tun sollten, sondern vielmehr darum, erst einmal innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und Ihre Situation mit neuen Augen zu sehen. Vielleicht sehen Sie dann deutlicher, was Sie wirklich wollen, welche Werte Sie in Ihrem Familienleben pflegen und verwirklichen wollen und wie Sie einen Weg finden können, der es Ihren Kindern und Ihnen selbst ermöglicht, ein erfülltes Leben zu führen.
Geschichte Der ehrgeizige junge Bauer
Im alten China gab es einen jungen, ehrgeizigen Bauern, der ein großes Feld erworben hatte und nun darauf brannte, seine erste Ernte einzufahren. Er kaufte besonders ertragreiches Saatgut, und so konnte er mit der Arbeit beginnen. Nachdem er den Boden bearbeitet, das Saatgut ausgebracht und alles weitere für ein gutes Wachstum der Pflanzen