MYLA KABAT-ZINN UND JON KABAT-ZINN
Einführung
Kinder auf eine angemessene Weise ins Leben zu begleiten ist sicherlich eine der größten Herausforderungen unserer Zeit – und gleichzeitig eine der wichtigsten Aufgaben, denn die Qualität, in der wir Kindern heute begegnen, wirkt sich entscheidend darauf aus, wie sie der Welt von morgen gewachsen sein werden – und wie diese Welt aussehen wird.
Vielleicht stellen auch Sie sich manchmal die Frage, wie es möglich ist, Kinder auf eine Zukunft vorzubereiten, die heute in keiner Weise vorhersehbar ist und die von ihnen ein enormes Maß an Flexibilität, Kreativität, innerer Kraft und emotionaler Stabilität erfordern wird? Wie können Kinder lernen, sich in einer sich ständig und immer schneller wandelnden Welt zurechtzufinden, ohne den Kontakt zu ihrem eigenen inneren Leben zu verlieren? Wie können sie über intellektuelle Fähigkeiten hinaus das entwickeln, was heute „Emotionale Intelligenz“ genannt wird – also die Fähigkeit zu harmonischen sozialen Kontakten und echten zwischenmenschlichen Beziehungen?
Schon lange und aus verschiedensten Blickwinkeln haben sich Menschen mit der Frage beschäftigt, wie Kinder zu möglichst sozialen, gebildeten und kompetenten Wesen – zu wirklichen Menschen – erzogen werden können. Waren die Methoden dabei früher autoritär, so sollen sie heute demokratischer, „gehirngerechter“ oder in anderer Hinsicht erfolgversprechender sein.
Wie Michael Mendizza und Joseph Chilton Pearce in ihrem Buch Neue Kinder – Neue Eltern anschaulich verdeutlichen, ist laut den neuesten Forschungen das allermeiste dessen, was wir traditionell unter Erziehung verstehen, nicht nur überflüssig, sondern direkt schädlich für die harmonische Entfaltung von Kindern. Und noch mehr als das: Darüber hinaus blokkieren viele sogenannte erzieherische Maßnahmen das innere Wachstum der Erwachsenen und beeinflussen die Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen auf äußerst destruktive Weise.
Der Grund für diese pädagogische Sackgasse, in die wir geraten sind, ist die tiefsitzende Annahme, daß Kinder einer systematischen Erziehung unterzogen werden müßten, um richtige Menschen zu werden. Darüber hinaus müßten sie ein gewisses Alter erreichen, um als solche auch gesellschaftlich anerkannt zu sein. Alle diese „Pädagogischen Ansätze“ oder „Erziehungsstile“ gehen direkt oder indirekt davon aus, daß Neugeborene eben noch keine richtigen Menschen sind; vielmehr sei es unsere Aufgabe und Verantwortung, sie zu solchen zu formen – eben: sie zu erziehen. Diese Grundannahme wurde mal wissenschaftlich, mal religiös, mal volkstümlich formuliert – aber ernsthaft und grundsätzlich hinterfragt wurde sie selten.
Ich denke, daß eine grundsätzliche Neubesinnung überfällig ist. Es reicht nicht aus, unsere falschen Ansichten und Gewohnheiten zu modernisieren. Wir können nicht einfach eine Methode durch eine andere ersetzen, ohne unsere Vorstellungen von Erziehung grundsätzlich in Frage zu stellen.
„Mit Kindern neue Wege gehen“ heißt in diesem Zusammenhang, zu einer völlig neuen Sichtweise zu finden – einer Sichtweise, die anerkennt, daß Kinder von Anfang an gleich würdig, kompetent, sozial und somit auch vollwertige, einzigartige und in sich vollkommene Menschen sind. Ein einjähriges Kind ist kein unvollkommener Dreijähriger und eine Fünfjährige ist keine unvollkommene Siebenjährige. Jede Entwicklungsphase ist in sich vollkommen, und wird sie nicht respektiert und gewürdigt, so wirkt sich das negativ auf die Entwicklung eines Kindes aus.
Gleichzeitig geht es im Leben mit Kindern um eine Beziehungsqualität, die dieser gleichen Würde Ausdruck verleiht. „Kinder sind anders“ nannte schon Maria Montessori eines ihrer Bücher, und sie betonte mehrfach, daß nur, wenn wir diese Andersartigkeit annehmen und lernen, Kinder „mit den Augen der Liebe zu sehen“, wir zu ihnen eine echte menschliche Beziehung aufbauen und sie angemessen ins Leben begleiten können.
Dabei begeben wir uns alle im wahrsten Sinne des Wortes auf Neuland. Es gibt keine ausgetretenen Pfade, denen wir folgen könnten, kein anderes Erziehungssystem, keine „Bedienungsanleitung“, die bei konsequenter Anwendung helfen könnte, Kinder optimal auf die Welt von morgen vorzubereiten. So kann dieses Buch auch kein Ratgeber sein, der aufzeigt, wie man „richtig“ mit Kindern umgeht. Vielmehr bietet es einige grundsätzliche Überlegungen und Anregungen zum Leben mit Kindern, die es Ihnen ermöglichen können, mit ihnen in eine echte Beziehung zu treten und so Ihre eigenen Erfahrungen zu machen und Ihren eigenen Weg zu finden. Ein solcher Weg ist nicht leicht, denn wir sind auf diese Art des Umgangs mit Kindern nicht vorbereitet, aber er ist nicht nur für die Zukunft unserer Kinder von größter Bedeutung, sondern ermöglicht es auch uns selbst, zu einem erfüllteren Leben zu finden – mit unseren Kindern zu wachsen.
Mein Weg
Valentinstag 1987. Ich sitze im Flugzeug nach Ecuador, um mir den „Pesta“, ein Kindergarten- und Schulprojekt, anzusehen, das plötzlich und völlig unerwartet in meinem Leben aufgetaucht ist. Möglichkeiten und Wege für die Entfaltung des menschlichen Potentials hatten zwar schon lange eine zentrale Bedeutung in meinem Leben eingenommen, aber bisher standen dabei eher mein eigener Prozeß und die Arbeit mit Erwachsenen im Vordergrund. Als Lehrer der Alexander-Technik lag mein Schwerpunkt darin, wieder mehr mit mir, meinem Körper und meinen inneren Quellen in Kontakt zu kommen, um so zu einem bewußteren und erfüllteren Leben zu finden. Gleichzeitig begann ich buddhistische Achtsamkeits-Meditation zu praktizieren, machte eine Gestalt-Ausbildung und hatte angefangen, meine Erfahrungen an andere weiterzugeben und andere Menschen in ihrem eigenen Prozeß zu begleiten.
In dieser Zeit begann ich mich dann auch zunehmend für die Frage zu interessieren, wie es kommt, daß im Laufe des Heranwachsens so viel von unserem Potential verlorengeht oder verschüttet wird und wie ein Umgang mit Kindern aussehen könnte, der ihre Entfaltung unterstützt und angemessen begleitet.
Eines Tages besuchte ich einen befreundeten Psychotherapeuten, mit dem ich schon oft über diese Fragen diskutiert hatte. Kaum hatten wir uns zu einem Tee hingesetzt, erzählte er mir von dem Manuskript eines Buches mit dem Titel Erziehung zum Sein, das ich unbedingt lesen müsse. Als ich nach einem langen Abend voll anregender Gespräche endlich im Bett lag, wollte ich doch zumindest noch einen Blick in das Manuskript werfen, das meinen Freund so begeistert hatte. Ich begann zu lesen – und konnte nicht mehr aufhören. Ich war fasziniert und tief berührt – meine Gefühle beim Lesen waren vielleicht nur vergleichbar mit dem Sturm der ersten großen Liebe.
Es ging um den „Pesta“, ein Kindergarten- und Schulprojekt in Ecuador, das das Ehepaar Rebeca und Mauricio Wild gegründet hatte, um ihrem zweiten Sohn eine andere Erfahrung als in den staatlichen Schulen zu ermöglichen. Ich selbst hatte unter der Schule immer gelitten und den größten Teil des uns auferlegten Programms als wenig sinnvoll empfunden. Aber was ich von diesem Projekt gehört und gelesen hatte, schien mir fast ein Märchen zu sein. Es war, als würde ich in meinen unguten Gefühlen als Schüler endlich bestätigt werden: Wir waren also doch nicht einfach faul oder unmotiviert, wenn wir keine Lust hatten, auf Anordnung von irgendwelchen Lehrern etwas zu lernen, was uns überhaupt nicht interessierte.
In diesem Schulprojekt schien wirklich alles anders zu sein – kein Zwang, keine Noten, keine Klassenarbeiten, keine Hausaufgaben, die Kinder können dem nachgehen, was ihren wirklichen Interessen entspricht. Das klang wirklich paradiesisch für einen geplagten Exschüler wie mich.
So saß ich also im Flugzeug, um den „Pesta“ persönlich kennenzulernen und mit eigenen Augen zu sehen, wie ein solches Schulprojekt funktionierte. Schon bei der ersten Begegnung mit den Wilds stellte sich eine für mich ungewöhnliche Vertrautheit ein. Die Kommunikation war glücklicherweise kein Problem, da Rebeca in Deutschland aufgewachsen war und auch Mauricio, als Sohn Schweizer Eltern, die nach Ecuador ausgewandert waren, fließend Deutsch sprach. Nachdem sich ihre Überraschung gelegt hatte, daß der Herausgeber ihres Buches nicht der von ihnen erwartete ältere Herr war, sondern ein gerade einmal dreißigjähriger junger Mann, entwickelte sich schnell eine entspannte und von anregenden Gesprächen geprägte Atmosphäre.
Meine Gefühle, als ich am nächsten Tag das erste Mal dem Treiben im Pesta beiwohnte, lassen sich nur schwer beschreiben. Das Buch hatte natürlich einige Erwartungen geweckt, aber die Wirklichkeit wurde diesen Erwartungen durchaus gerecht. Ich saß